5. Kapitel

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Lautes Vogelgezwitscher ertönte aus den Bäumen über dem Lager und Rabenpfote schlug verschlafen die Augen auf. Durch die kleinen Lücken zwischen den Brombeerranken, die den Schülerbau umgaben, konnte er erkennen, dass die Morgendämmerung nahte. Der Himmel färbte sich langsam hellblau und kündigte bereits die bald aufgehende Sonne an. Gähnend sah er sich um. Seine Baugefährten lagen noch zusammengerollt in ihren Nestern und schliefen. Da er jetzt sowieso nicht mehr einschlafen konnte, rappelte er sich auf die Pfoten und streckte sich ausgiebig. Vorsichtig schlängelte er sich durch die schlafenden Körper der Katzen hindurch zum Ausgang. Vor dem Bau sitzend ließ er den Blick über die noch reglose Lichtung schweifen. Die kühle Morgenluft wehte ihm um die Nase und er plusterte sein Fell auf. Heute stand wieder Kampftraining auf dem Plan und Rabenpfote freute sich schon sehr darauf, mit Tigerkralle zu trainieren. Die letzte Nacht war unvergesslich gewesen und immer, wenn er daran dachte, spürte er ein sanftes Kribbeln im Bauch. Er konnte es kaum abwarten Tigerkralle endlich zu sehen. Es war ihm fast schon vor sich selbst peinlich. Als er merkte, dass er langsam hungrig wurde, machte er sich am Bau der Krieger vorbei auf den Weg zum Frischbeutehaufen. Doch der war leer. Die Morgenpatrouille würde sich darum kümmern müssen.

"Rabenpfote? Warum bist du so früh schon auf?" ertönte Löwenherz verschlafenes miauen hinter ihm. Rabenpfote drehte sich um. Der zweite Anführer hatte sich gerade aus dem Kriegerbau geschoben und schüttelte sich die letzten Moosfetzen aus dem Pelz. "Ich konnte nicht schlafen" gestand Rabenpfote und knetete den Boden mit seinen Pfoten. Löwenherz nickte verstehend. "Ich werde dann mal Graupfote holen. Er kommt heute mit auf die Morgenpatrouille" erklärte er und trottete Richtung Schülerbau davon. Armer Graupfote. Jeder wusste wie sehr er es hasste so früh aufzustehen. Ein weiteres Rascheln aus dem Kriegerbau riss Rabenpfote aus seinen Gedanken und Dunkelstreif schlüpfte gefolgt von Tigerkralle und Langschweif hinaus. Rabenpfote bekam Panik. Würde Tigerkralle denken, dass er hier extra auf ihn gewartet hatte? Aber die eigentliche Frage war, ob er es komisch finden würde? Sein Blick traf den von Tigerkralle und sein Mentor schien überrascht. "Du bist früh auf" gähnte er und streckte sich. Rabenpfote wurde nervös. Tigerkralles Stimme war so viel tiefer und rauer, wenn er gerade erst aufgestanden war. "Ich-Ich konnte nicht schlafen..." erklärte er jetzt schon zum zweiten Mal. Tigerkralle, der sich inzwischen gesetzt hatte, sah ihn an und zuckte mit den Ohren. "Ich bin aber noch müde!" protestierte Graupfote lauthals, während er hinter Löwenherz hertappte. "Die Morgenpatrouille muss nunmal erledigt werden. Das gehört zu den Pflichten eines Kriegers" Löwenherz sah ihn streng an. "Ich weiß..." seufzte Graupfote. "Deswegen bin ich aber trotzdem müde." Dunkelstreif und Langschweif erhoben sich auf die Pfoten und kamen ihnen entgegen. "Borkenpfote!" rief Dunkelstreif und der dunkelbraune Kater kam verschlafen aus dem Bau der Schüler herausgekrochen. "Komm! Es ist Zeit!" Rabenpfote erwartete, dass Tigerkralle ebenfalls aufstehen würde. Aber der rührte sich nicht, bis die Patrouille im Ginstertunnel verschwunden war. "Gehst du nicht mit?" fragte Rabenpfote verwirrt. "Nein" antwortete Tigerkralle. "Das siehst du doch!" fügte er mit einem Knurren hinzu. Rabenpfote zuckte zusammen. Hatte er etwas falsches gesagt? "Warum bist du dann aufgestanden?" hakte Rabenpfote weiter nach. "Aus demselben Grund wie du." Rabenpfote stockte für einen Moment der Atem. Ob er vielleicht der Grund war, warum Tigerkralle nicht schlafen konnte? Bei dem Gedanken daran wurde ihm wieder warm bis zu den Ohren. "Naja, wenn wir sowieso schon beide wach sind, sollten wir die Zeit sinnvoller Nutzen, als hier zu stehen und zu quatschen!" schnaubte Tigerkralle schließlich und trottete Richtung Lagerausgang. Rabenpfote folgte ihm ohne auf ein Zeichen zu warten.

Bei der Sandkuhle angekommen stellte sich Tigerkralle in die Mitte. Rabenpfote positionierte sich vor ihm und scharrte mit einer Vorderpfote nervös im Sand herum. Sie hatten den ganzen Platz für sich. Es war komisch wieder mit Tigerkralle allein zu sein. Aber auch gleichzeitig irgendwie schön. Er wusste einfach nicht, welches Gefühl überwog. "Was ist denn los, Rabenpfote? Worauf wartest du?" fragte Tigerkralle und sah ihn eindringlich an. Rabenpfote erstarrte. Tigerkralle hatte dieselben Worte in der letzten Nacht benutzt, um ihn dazu aufzufordern, ihn zu küssen. Immer wieder waren sie ihm seitdem durch den Kopf gegangen. Sein Fell sträubte sich vor Aufregung ein wenig. Er wusste nicht, was er tun sollte. Auf einmal fing Tigerkralle an zu lächeln. Er musste Rabenpfotes Unsicherheit bemerkt haben. "Du sollst mich angreifen" erklärte er genervt, als hätte er einen Schüler vor sich, der noch nie gekämpft hatte. Jetzt erst wurde es Rabenpfote bewusst: Tigerkralle hatte das mit Absicht gesagt! Er wollte ihn provozieren. Aber dabei hatte er sich gehörig verschätzt. Rabenpfote peitschte mit dem Schwanz. Das würde er Tigerkralle heimzahlen. Er wollte es offenbar nicht anders. Ohne Vorwarnung sprang er auf Tigerkralle zu, um ihn auf den Boden zu drücken. Dieser ließ sich auf den Rücken fallen und schleuderte ihn mit den Hinterbeinen weg, sodass nun Rabenpfote auf dem Rücken lag. Tigerkralle war schneller über ihm, als er hätte reagieren können und nagelte ihn am Boden fest. Rabenpfote versuchte, sich mit seinen Hinterbeinen zu befreien, aber Tigerkralle war stärker als er. Er überlegte einen Moment, was er tun konnte. Ihm fiel etwas ein, dass vielleicht funktionieren und mit dem Tigerkralle sicher nicht rechnen würde. Nachdem Rabenpfote sich vergewissert hatte, dass auch wirklich niemand da war, schlang er ihm eine Vorderpfote um den Nacken, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn. Sofort spannte sich Tigerkralles Körper an und er spürte, wie sich das Fell seines Mentors vor Überraschung aufplusterte. Rabenpfote grinste in sich hinein. Tigerkralles Griff lockerte sich etwas, doch bevor Rabenpfote die Chance nutzen konnte, um sich herauszuwinden, hörte er ein Rascheln im Gebüsch hinter ihnen. Erschrocken unterbrach Rabenpfote den Kuss und Tigerkralles Kopf schnellte zurück. Dann blickte er hinter sich. Ein Eichhörnchen kletterte einen Baum hinauf und verschwand zwischen den raschelnden Blättern in der Krone. Tigerkralle seufzte erleichtert und wollte seinen Kopf wieder zu Rabenpfote drehen. Doch der nutzte den Moment, indem Tigerkralle kurz abgelenkt war und trat ihn mit den Hinterbeinen von sich weg. So schnell er konnte, richtete Rabenpfote sich auf, sprang Tigerkralle an und drückte nun ihn zu Boden. Er hatte den Spieß umgedreht. "Ein wahrer Krieger darf sich unter keinen Umständen ablenken lassen" wiederholte Rabenpfote Tigerkralles eigene Worte mit einem triumphierenden Grinsen und versuchte dabei, seine Stimme nachzumachen. Tigerkralles überraschter Blick änderte sich langsam in ein spielerisches schmunzeln. "Oh, ist das so?" fragte er neckend. Rabenpfotes Herz begann wieder zu rasen. Diese Seite kannte er von Tigerkralle noch garnicht. Aber es gefiel ihm. Bevor er etwas erwidern konnte, wand sich Tigerkralle mit Leichtigkeit aus seinem Griff, sodass Rabenpfote stolperte und mit einem dumpfen Geräusch auf die Seite fiel. Er wollte sich aufrichten, doch Tigerkralle drückte ihm mit der Pfote auf die Schulter. Langsam beugte sich der größere Kater zu ihm herunter und flüsterte ihm ins Ohr: "Wenn du sowas nochmal machst, werde ich beim nächsten Mal weniger gnädig sein!" Mit diesen Worten ließ er von Rabenpfote ab, welcher sofort auf die Pfoten sprang. Tigerkralle schüttelte sich den Sand aus dem Fell und beachtete ihn nicht. Rabenpfote setzte sich. "Das hätte jemand sehen können!" zischte Tigerkralle schließlich mit ernster Stimme. "Ich habe mich vergewissert, dass niemand da ist..." flüsterte Rabenpfote und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. Tigerkralle sah ihm in die Augen. "Trotzdem müssen wir vorsichtig sein." Rabenpfote nickte. Tigerkralle hatte Recht. Wenn jemand davon erfuhr, könnten sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Und das war das Letzte, was er wollte.

Tigerkralle x RabenpfoteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt