Vergib mir!

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Noah

Ich stehe von dem unbequemen Stuhl auf und blicke meinen besten Freund auffordernd an. Nach kurzem Zögern, sieht er sich im Raum um, als würden die Aufseher uns gleich verhaften, sobald wir uns bewegen. Schließlich erhebt er sich langsam, beinahe vorsichtig.
Ich lege ihm behutsam meine Hand auf den Rücken, was ihn zusammenzucken lässt. Schnell ziehe ich meine Hand zurück, denn ich vergaß, dass er Probleme mit Berührungen hat. Er hat wirklich noch viel vor sich, um endlich seine Seele heilen zu können. Ich gehe ein Stück vor ihm zur Tür, hinter der uns Ellies blonder Cousin empfängt. "Hi, ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen, richtig? Ich bin Timo", stellt er sich mir vor und streckt lächelnd die Hand aus. Dabei kann ich erkennen, wie warme Freundlichkeit in seine giftgrünen Augen steigt. Diese Augen liegen wohl wirklich in der Familie. "Noah, freut mich", erwidere ich und ergreife Timos Hand. Mika steht währenddessen gelangweilt daneben und verschränkt die Arme vor dem Oberkörper. In diesem Moment sieht er aus wie ein kleines Kind.
Ich kann nicht sagen, wieso Mika sich so verhält. An seiner Stelle wäre ich wohl froh, ein bekanntes Gesicht in meiner Nähe zu haben. Bis vor kurzem wusste ich noch nicht einmal, dass Ellie einen Cousin hat, weder sie noch Mika haben mir je von ihm erzählt. Generell schweigen sie über das Thema Familie und weichen einer Erwähnung dieses Themas geschickt aus.

"Erinnerst du dich an den Weg in den Innenhof, Noah?", fragt mich Timo und ich verneine. Ich habe die Orientierung restlos verloren auf dem Weg in den Besucherraum, der aussieht wie jene in amerikanischen Krimis in Gefängnissen. "Dann folgt mir, ich bringe euch dahin, damit ihr ungestört reden könnt." Bei den vielen Abzweigungen und Gängen frage ich mich ernsthaft, wie Mika es nur schafft, sich hier zurecht zu finden. Immerhin hat er den schlechtesten Orientierungssinn meiner Freunde und ich frage mich, woher er diese Eigenschaft hat. Ellie weiß immer wo sie hin muss und wie sie dort hin gelangt. Doch Mika schafft es, sich zu verlaufen, kaum hat er ein Gebäude verlassen. Manchmal ist er dümmer als zehn Meter Kiesweg.

Nach dem endlosen Meer von Türen, bunter Farben und nicht dazu passenden Möbeln kommen wir endlich in der Eingangshalle an. Nun deutet Ellies Cousin nur noch auf die schwere Eingangstür. "Vielen Dank, Timo den Rest werde ich sicherlich alleine finden." Ich schenke ihm ein Lächeln und bedeute Mika mit einem Blick, zu der großen Holztür zu gehen.
"Mach nur keine Dummheiten", raune ich ihm ins Ohr, während ich die Tür öffne und ernte einen düsteren Blick. Ich finde es äußerst erstaunlich, dass diese hellen, grünen Augen eine solch dunkle Aura ausstrahlen können, dass einem kalt werden kann.
Wir biege um die Ecke des Gebäudes und vor uns erstreckt sich ein riesiger Blumengarten mit einer Vielzahl an Blüten und Bäumen in viele Beeten. Wäre der Himmel nicht so bedeckt, wäre dies sicherlich ein noch himmlischerer Anblick. "Wow", staune ich bei dem Anblick der bunten Beete. Mika geht weiter, während ich einfach stehen bleibe, um diesen Anblick in mich aufzunehmen. Leider kann ich nicht sagen, um welche Blumen es sich im Detail handelt, ich kenne mich nicht mit Pflanzen aus. In Manchen großen Beeten sind kleine Steine als Weg gelegt, andere sind wiederum eingezäunt. Außen herum ist eine große Wiese auf der vereinzelt ein paar Bäume stehen, vor denen jeweils eine Parkbank steht. Ein älterer Mann stellt gerade einen Jägerzaun um eine alte Eiche auf.

"Willst du Wurzeln schlagen oder hatte es nicht einen bestimmten Grund, dass du mich besuchst?" Mikas Stimme reißt mich aus meiner Starre und ich schaue ihn an. Er steht wenige Meter vor mir und schaut mich prüfend an. "Ich hab absolut nichts dagegen, wenn du lieber diese Blumen hier" er spricht es verächtlich aus, "anschaust, statt mit mir zu reden. Also nur zu!" Diese Worte treffen mich wie ein Pfahl direkt ins Herz. Ich möchte mir einreden, dass er es bestimmt nicht so meint und sich insgeheim freut mich zu sehen. Dass dieses Kribbeln in den Fingern auf Gegenseitigkeit beruht, aber sein argwöhnisches Verhalten sagt mir das Gegenteil. Plötzlich bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob es eine gute Idee war, über 500 Kilometer zu fahren, nur um ihn zu sehen. "Ich komme ja schon", seufze ich und gehe auf ihn zu, während er sich umdreht und eine Birke ansteuert, unter der eine Bank steht. Wortlos setzen wir uns. Mika starrt auf seine Finger und knibbelt an der Nagelhaut herum, während ich ihn aus den Augenwinkeln immer wieder anschaue und den Blick zwischendurch auf meine Schuhe richte. "Warum bist du hier?", bricht Mika das Schweigen zwischen uns. "Ich wollte dich sehen", antworte ich ihm ehrlich. Naja zumindest beinahe komplett ehrlich. Er wendet mir seinen Blick zu und ich schaue in das tiefe Grün seiner Augen. Wie gerne würde ich diese Augen strahlen und vor Freude glitzern sehen. Doch seit ich ihn kenne, sind diese Augen matt und müde. Ich kann es ihm nicht verübeln bei all den Geheimnissen, die er hütet und von denen ich gerade nur eines kenne und ein weiteres bloß erahnen kann. "Klar wolltest du mich sehen", in seinen Worten klingt Bitterkeit mit und er schnauft leise, "meine Mutter hat dich zur Kontrolle geschickt, nicht wahr?" Ich weiß nicht, wie er sich das zusammengereimt hat. "Ach nein, entschuldige, es ist ihr doch egal, was aus mir wird." Er feuert nicht gegen mich, aber es stimmt mich sauer, dass er so über seine Mutter redet. "Sie hat ein schlechtes Gewissen, weißt du", beginne ich, doch Mika schneidet mir direkt das Wort ab. "Sicher, bestimmt versinkt sie gerade in Selbstmitleid und nuckelt an der vierten Flasche Wein!" Seine Enttäuschung muss echt tief sitzen. "Sie ist trocken", murmle ich und warte auf eine bissige Antwort meines besten Freundes, doch es kommt nichts. Ich schaue zu ihm und sehe in sein geschocktes Gesicht.

"Mika, bitte vergib mir, dass ich nicht für dich da war." Ich spreche das laut aus, was mich schon seit der Nachricht von Julis Tod quält. Ich bin es jeden Tag durchgegangen, um genau auf diese Situation vorbereitet zu sein. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten, wie Mika reagieren kann: erstens, er schreit mich an und geht danach weg oder zweitens, er schlägt mich während er mich anschreit und geht dann weg. Beide Optionen sind nicht die feine Art, aber ich kann ihm nicht eine der beiden übel nehmen. Während ich auf die scharfen Worte warte, klopft mein Herz immer schneller und ich weder von Sekunde zu Sekunde nervöser."Wie hättest du denn für mich da sein sollen?", fragt er ruhig. Für meinen Geschmack ein wenig zu ruhig. "Ich habe dir doch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, mir zu helfen oder wie siehst du das? Ich bin weggerannt als sie mich in die Psychiatrie gesteckt haben. Ich habe niemandem was erzählt und bin auch nicht wieder nach Hause. Wie hättest du mir also helfen können?" Ja, wie nur?
"Ich hätte nach dir suchen können, stattdessen habe ich darauf vertraut, dass du wiederkommst. Außerdem rede ich nicht nur von der Zeit nach seinem Tod, ich spreche auch von der Zeit bis dahin." Ich sehe ihn eindringlich an. Ich hatte nie etwas für ihn getan, ihm nie angeboten, zu mir zu kommen, auch wenn es nur wenige Etagen Unterschied machte. Aber ich wusste genau, dass meine Eltern Mikas Familie nicht leiden konnte. Als Asoziale haben sie Ellie und Mika bezeichnet. Wahrscheinlich, weil sie nicht an Gott glauben und nicht die typische Familie sind. Der Vater ist nicht mehr da und laut der Auffassung meiner Eltern habe er die Familie verlassen, weil die Kinder so missraten seien.

"Findest du nicht auch, dass es sich bescheuert anhört, wenn du es laut aussprichst?" Irgendwo hat er Recht, ich will aber nicht einsehen, dass er das alles auf sein Konto schreibt. "Dann lass mich dir jetzt helfen!" Ich blicke ihm in die Augen. Wie gerne würde ich gerade mein Hand auf sein Knie oder seine Schulter legen, ihn in den Arm nehmen, aber ich weiß genau, dass er das nicht mag. Sein Anblick tut mir in der Seele weh. Wie ein Pfeil direkt in mein Herz. Bitte lass mich dir helfen, Mika!"

Zwischen Licht und SchattenWhere stories live. Discover now