Ihr könnt mich mal!

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Song: Linkin Park - Waiting for the End

Ich würde lügen, wenn ich sage, dass die letzten drei Tage wie im Flug vergingen. Denn das taten sie nicht. Diese Tage fühlten sich so an, als hätte sie jemand in Dauerschleife abgespielt. Die meiste Zeit wurde ich in Ruhe gelassen, sie ließen mich in meiner Welt aus Musik und Erbrechen und Schmerzen in allen Gliedmaßen meines Körpers.
Timo hat jeden weiteren Tag nach mir geschaut, mir die Mahlzeiten gebracht und versucht, ein Gespräch aufzubauen. Doch nie habe ich ihn gelassen, sondern lediglich verlangt, dass er geht.

Den gestrigen Tag über habe ich ihn überhaupt nicht gesehen und auch die Schmerzen klangen ab. Mein Kopf pocht noch immer im Rhythmus meines zu schnellen Herzschlages, doch ich spüre meinen Körper wieder. Ich merke Berührungen statt Schmerz. Ich fühle die Gänsehaut auf meinen Armen, als ich der Stimme meines größten Idols lausche: Chester Charles Bennington. Der Mann, der mir durch seine Texte immer wieder auf die Beine half, der mich häufig davon abhielt, Suizid zu begehen. Er ist der Mann, der mir die Kraft schenkt, heute aufzustehen und duschen zu gehen. Auch nach seinem Tod ist er für mich mein größtes Vorbild. Auch wenn ihn seine Depression schließlich getötet hat, kämpfte er bis dahin jeden Tag, schenkte den Menschen ein Lächeln und Hoffnung auf Besserung.

Heute soll ich das Einzelzimmer verlassen und mir ein Zimmer mit zwei weiteren Jungs teilen, da sich mein Zustand seit gestern verbessert hat. Deshalb bekomme ich jetzt jeden Abend vor dem Schlafen vier Tabletten Quetiapin, eine Art Antidepressivum, verabreicht. Es soll mir helfen, klare Gedanken zu fassen, mich selbst zu finden. Bisher zeigt es keine Wirkung, außer hohe Müdigkeit, sodass ich auf der Stelle, selbst im Stehen, einschlafen könnte. Wie auch jetzt, als ich vor der Tür des Psychiaters stehe und darauf warte, dass meine Sitzung beginnt.

Die Tür öffnet sich und der bärtige Psychiater beginnt zu lächeln, als er mich sieht. "Hallo Mika, komm doch bitte herein." Mit einer einladenden Geste bedeutet er mir, in das kleine Zimmer einzutreten.
"Wie geht es deinem Arm?", fragt er mich, nachdem ich mich in den ledernen Sessel gesetzt habe und er mir gegenüber an seinem geschniegelt sauberen Tisch Platz genommen hat. Ich hebe als Antwort nur knapp die Schultern. Zu mehr fehlt mir einfach die Kraft. Die Augen fallen mir beinahe wieder zu. Es kostet mich zu viel Konzentration und Anstrengung, sie geöffnet zu halten, als meinem Gegenüber antworten zu können. "Kannst du deinen Arm heben?", fragt er mich. Ich nicke, wieder knapp, und hebe schwerfällig meinen linken Arm. "Kannst du mir sagen, was an deinem ersten Abend hier passiert ist?" Ich versuche, meine Augen offen zu halten und die Erinnerungen zu verdrängen, bleibe still. Die Bilder in meinem Kopf sind klar: der Alptraum, der einer Halluzination wich, die Krämpfe und Schmerzen. Der Gedanke daran, dass mich jemand aus dem Bad gezerrt hat, lässt mich erschaudern, hinterlässt ein beklemmendes Gefühl. Ich fühle mich ekelig und befleckt. Am liebsten möchte ich meine Haut an diesen Stellen abschleifen, bis ich mich wieder rein fühle.
Ich bleibe stumm, will nicht darüber reden.

"Mika, ich bin hier, damit ich dir helfen kann. Wir möchten, dass du gesund wirst und ein normales Leben führen kannst." Meine Blick gleitet durch den Raum, überfliegt das Bücherregal zu meiner Linken. Mir fällt das beige Buch mit roter Aufschrift auf, das bei den Klassikern von Goethe und Schiller steht. Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr Hyde steht drauf. "Das stand vor ein paar Tagen noch nicht dort", stelle ich fest. Der Bärtige brummt. "Ich hatte es zu Hause stehen. Wenn du möchtest, kannst du es dir gerne ausleihen und nochmal lesen." Der Vorschlag klingt verlockend, doch ich lehne ab. "Danke, ich hab noch ein anderes Buch zu lesen." Jetzt sehe ich ihn wieder an. "Welches liest du denn gerade?" Er klingt wirklich interessiert, es ist nicht geheuchelt. "Das Lied der Krähen." Er nickt und stellt die nächste Frage: "Worum geht es da?" Ich überlege kurz, bevor ich antworte. "Eine Gruppe aus sechs Leuten muss einen gefährlichen Auftrag erledigen, einer von ihnen ist so alt wie ich und bei seinen Handlungen skrupellos, doch er tut nichts ohne einen Plan. Er benutzt die Leute für seine Zwecke und jeder in dem Viertel kennt seinen Namen." Eine kurze Pause entsteht, in der wir einander anschweigen. "Identifizierst du dich mit ihm?", bricht er nach einigen Sekunden das Schweigen. Ob ich mich mit Kaz Brekker identifiziere? Wohl kaum. "Nein, er ist das Böse in Person und hat immer einen funktionieren Plan." Kaz ist mir sympathisch, mehr dann auch nicht. "Hast du denn keine Pläne?" Ich funkle ihn an, Wut keimt in meinem Magen auf und bahnt sich einen Weg durch meine Speiseröhre nach draußen. "Was soll ich denn bitte für Pläne haben? Ich sitze hier in diesem Loch fest, muss mich penibel an alles halten und bloß Ja und Amen sagen." Ich schnaube und verschränke die Arme vor meinem Oberkörper.

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt