Kapitel 3 - Akzeptanz

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Aedion Ashryver saß am Bett seines Vaters und umklammerte fest seine Hand. Seit fast zwei Wochen befand sich der Löwe nun permanent in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Er war auf diesem Schlachtfeld beinahe gestorben. Sein ganzer Körper vom Bauch bis zur Kehle war aufgeschlitzt gewesen. Als er selbst ihn gefunden hatte, hätte er schwören können, sein Vater sei bereits tot – was bei dem vielen Blut, das er verloren hatte, auch kein Wunder war. Die Heiler hatten ihn zusammengeflickt und von einem Wunder gesprochen, dass Gavriel nicht an der Wunde gestorben war.

Natürlich freute Aedion sich riesig über den Kriegssieg, der wohl zu großen Teilen auf Aelins Konto ging. Aber bis jetzt hatte er nicht die Gelegenheit gehabt, das auch zu feiern. Ihm war gar nicht danach zumute gewesen. Denn der schlechte Zustand seines Vaters überschattete jegliche Freude. Sein Herz schlug zwar, aber dennoch war er seit der Schlacht nicht einmal aufgewacht, hatte nicht einmal etwas gesagt. Das wusste Aedion, weil er fast die ganze Zeit über hier gesessen und über seinen Vater gewacht hatte. Eigentlich war er nur zu Aelins Krönung vor ein paar Tagen und hin und wieder, um seine Notdurft zu verrichten, von Gavriels Seite gewichen.

Aelin Ashryver Whitethorn Galathynius, Königin von Terrasen. Ihm gefiel ihr neuer Titel ziemlich, ziemlich gut. Und trotz allen seinen Sorgen hatte er den Tag genossen. Er hatte getanzt, gefeiert und köstliche Speisen zu sich genommen, doch das Allerbeste war: Er hatte seiner Königin den Bluteid geschworen. Wie gerne hätte er das unter dem stolzen Blick seines Vaters getan? Aedion konnte die Sorge kaum aushalten. Was, wenn Gavriel nie wieder erwachte? Vor ein paar Wochen noch, hätte Aedion gesagt, es kümmerte ihn nicht. Doch schon da wäre es gelogen gewesen. Ja, verdammt, er war vom ersten Moment an froh gewesen, nun endlich einen Vater zu haben. Aber er hatte einen Sündenbock gebraucht, auf den er den Tod seiner Mutter, ihre Verzweiflung, die Verachtung, die man ihr entgegengebracht hatte, und seine eigene, vaterlose Kindheit schieben konnte.

Aedion wusste natürlich, dass sein Vater an keinem dieser Dinge schuld war. Aber ein kleiner, dreckiger Teil von ihm hatte es genossen, zu sehen, wie sehr seinen Vater seine harten Worte kränkten und zur Verzweiflung brachten, denn er wollte, dass auch er einmal das fühlen musste, was er und seine Mutter jahrelang ertragen hatten. Aedion hasste sich selbst dafür. Und obwohl er die ganze Zeit über so eisig und unfreundlich zu Gavriel gewesen war, hatte sich sein Vater immer bemüht, alles wiedergutzumachen, was zwischen ihm und seiner Mutter vorgefallen war. Und dafür liebte er ihn. Ja, er hatte Gavriel als seinen Vater akzeptiert. Seit er geholfen hatte, Aelin aus Maeves Klauen zu befreien, respektierte er seinen Vater sogar und hatte ihn seither nicht mehr ganz so abweisend behandelt. Außerdem hatte Gavriel seine Mutter wirklich und wahrhaftig geliebt. Daran gab es keinen Zweifel. Auch das Wissen, selbst nicht bloß die Folge irgendeiner bedeutungslosen Nacht, sondern tiefer, echter Liebe zu sein, hatte zur deutlichen Minderung von Aedions Abneigung Gavriel gegenüber beigetragen.

Und seit der Löwe sich geopfert hatte, damit er, sein Sohn, leben konnte... Seitdem gestand sich Aedion offen ein, seinen Vater zu lieben. Er wollte nicht, dass er starb oder litt. Er wollte mit ihm Zeit verbringen, ganz viel, um das wieder aufzuholen, was sie beide versäumt hatten. Als Vater und Sohn.

Aedions Haare waren fettig, sein Bart ungepflegt und stoppelig. Er hatte weder Zeit, noch Lust dazu, sich um sein eigenes Äußeres zu kümmern, während das Leben seines Vaters auf Messers Schneide stand. Traurig blickte er in Gavriels ausgezehrtes Gesicht.

Plötzlich fegte ein warmer Windstoß durch das Zimmer, obwohl alle Fenster geschlossen waren. Aedion richtete sich gerade auf. Er hätte schwören können, dass in die Wangen seines Vaters ein wenig Farbe zurückkehrte. Aedions Herz schlug schneller. Und dann zuckte Gavriels kleiner Finger der rechten Hand, die auf seinem Bauch lag. Aedion sprang auf, ließ die andere Hand seines Vaters los und rief nach einer Heilerin. Nun bewegte sich Gavriels Zeigefinger. Aedion stieß einen freudigen Schrei aus. „Er lebt!" Oh, beim Wyrd, sein Vater würde zu ihm zurückkehren! Vielleicht konnte er ihm dann endlich sagen, dass er ihn gar nicht hasste und das ihm leidtat, was er ihm alles an den Kopf geworfen hatte.

Es würde eine riesige Überwindung sein, ihm das auch tatsächlich zu gestehen, denn dann würde er zugeben müssen, sich geirrt zu haben, aber Aedion schwor sich: Wenn sein Vater aufwachte, würde er es ihm sagen. Vielleicht nicht sofort, aber er würde es tun. Manchmal im Leben war es wahrscheinlich gut, sich zu irren – solange man es hinterher zugab. Während Aedion seinen Gedanken nachhing, eilte eine Heilerin herbei.

„Er hat seine Finger bewegt", erklärte Aedion und begann, vor dem Bett auf- und abzutigern. Die Heilerin nickte und machte sich an die Arbeit. Mithilfe ihrer Magie prüfte sie Gavriels Herzschlag. „General Ashryver, Sie haben Recht! Der Herzschlag Ihres Vaters hat nun wieder einen gesunden Takt aufgenommen und auch sonst ist alles bereit dafür, dass er bald aufwacht!" Aedion seufzte. „Oh, den Göttern sei Dank..." Gleich darauf stieß er einen derben Fluch aus. Die Götter waren arrogante, eigensüchtige Schweine, denen Aelin zum Glück ein Ende bereitet hatte, nachdem sie sie verraten hatten.

Auf einmal stöhnte Gavriel schmerzerfüllt. Aedions Kopf fuhr zu ihm herum. Dann murmelte Gavriel mit heiserer, leiser Stimme: „E...Eliza..."

Aedion überlegte fieberhaft, woher er diesen Namen kannte, aber ihm fiel nichts – und niemand – ein. Aber sein Vater hatte gesprochen! Nun ging es wohl wirklich Schlag auf Schlag, gleich würde er – höchstwahrscheinlich – wach sein.

Noch einmal stöhnte sein Vater leise: „Eliza." Aedion konnte deutlich die Sehnsucht aus Gavriels Stimme heraushören, obwohl er noch kaum bei sich war. Er konnte den Namen einfach nicht einordnen... Er hatte ihn auf jeden Fall schon mehrmals gehört, aber... Gavriel schlug die Augen auf. Aedion war sofort wieder bei ihm. Erst starrte sein Vater ein paar Sekunden ziellos an die Decke, dann blinzelte er ein paar Mal. Die Heilerin wuselte emsig herum und sammelte irgendwelche Arzneien zusammen. Gavriel drehte leicht den Kopf in Aedions Richtung. Er sah, was diese kleine Bewegung seinem Vater für Schmerzen bereitete. Nach zwei Wochen war er es wohl nicht mehr gewohnt, seinen Körper zu rühren.

„Mein...Junge", krächzte Gavriel. Aedion nickte. „Papa", antwortete er. Das Wort fühlte sich seltsam fremd auf seiner Zunge an – er hatte es, wenn überhaupt, früher zu Rhoe gesagt, und das war ja auch schon ein paar Jahre her. Aedion strich über die Hand seines Vaters. Dieser brachte etwas wie ein Lächeln zustande. „Du...Hast mich Papa genannt", stellte er mit rauer Stimme fest. Aedion nickte. „Heißt das..." „Ich will Sie ja nicht unterbrechen, aber bitte sprechen Sie noch nicht so viel, geben Sie ihrem Körper Zeit, sich wieder an das Leben zu gewöhnen", unterbrach ihn die Heilerin. Aber Aedion hatte verstanden, was sein Vater hatte fragen wollen. „Ja, das heißt es", erwiderte er, „du bist mein Vater, Gavriel. Nicht mehr nur mein Erzeuger. Mein Vater." Gavriel traten Tränen in die Augen. „Danke, mein Sohn. Danke, Aedion." „Shhht!", fuhr die Heilerin wieder dazwischen. Aedion verdrehte leicht die Augen. „General Ashryver, ich würde vorschlagen, dass Sie später noch einmal wiederkommen, ich muss jetzt erst einmal gründlich den Zustand Ihres Vaters unter die Lupe nehmen." Aedion seufzte.

Gavriel nickte. „Komm später wieder, Aedion. Ich bin sicher, die Heilerin wird sich in der Zwischenzeit gut um mich kümmern." Unschlüssig stand Aedion da, aber dann entschied er sich, seinem Vater jetzt etwas Ruhe zu gönnen. Er winkte zum Abschied, dann verließ er sehr gut gelaunt die Krankenstation. Plötzlich erinnerte sich Gavriel an das, was vor seinem Aufwachen passiert war. Er hätte alles als einen wunderschönen Traum abgetan, wäre da nicht die weißgoldene Feder gewesen, die aus seiner Hand auf das Bett schwebte.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt