Kapitel 23 - Heimat

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Das Schiff fuhr in den Hafen von Varese ein. Aufgeregt sagte Eliza zu Gavriel: „Schau! Da ist er, unser Hafen!" Er lächelte und schlang seinen Arm fester um sie. Mit der anderen Hand strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Aedion ging von hinten auf seine Eltern zu. „Na, ihr zwei Turteltauben, freut ihr euch, wieder hier zu sein?" Eliza drehte sich zu ihrem Sohn um. „Aber sowasvon!", erwiderte sie breit grinsend. Sie winkte ihn vor zur Brüstung. Er folgte ihrer stummen Aufforderung. „Schau, Aedion, das ist ein ganz besonderer Hafen", begann sie und machte eine ausladende Handbewegung in Richtung Hafen, „hier haben dein Vater und ich uns kennengelernt." Sie beugte sich zu Gavriel und holte sich einen süßen, schmatzenden Kuss. Aedion lächelte.

„Das hier ist also ein wichtiger, historischer Ort für dich, mein Sohn", fuhr Gavriel fort. „Wenn ich Eliza nicht angesprochen hätte, gäbe es dich wohl nicht - und ich wäre nie in den Genuss gekommen, meine Gefährtin gefunden zu haben." Ein weiterer Kuss folgte. „Ist es nicht erstaunlich, was es für Zufälle gibt, Aedion? Deine Mutter war hier im Hafen, um ihre Cousine zu verabschieden. Ich war zufällig genau zu dieser Zeit von Maeve beurlaubt und bin zum Hafen gelaufen, obwohl ich dort eigentlich nichts zu erledigen hatte. Ich bin einfach einem Bauchgefühl gefolgt und habe dann die Frau gefunden, die für mich bestimmt ist. Glaubst du an Zufälle, mein Sohn?" Aedion wog den Kopf hin und her. „Ja, das ist tatsächlich erstaunlich. Ich muss jedoch sagen, ich bin mir nicht sicher, ob Zufälle nun existieren oder nicht. Aber eigentlich glaube ich auch nicht so recht an Schicksal. Also..." Er machte eine unbestimmte Geste mit den Händen. „Ich denke, unser Leben wird durch unser eigenes Handeln und unsere eigenen Entscheidungen bestimmt, nicht durch Zufall oder Schicksal", sagte er schließlich.

Das Schiff wurde an den Pollern festgemacht. „Kommt, lasst uns runtergehen!", rief Eliza begeistert aus. Aedion schlenderte zu Lysandra, die etwas entfernt an das Geländer gelehnt stand. „Hier ist also der Ort, an dem deine Wurzeln liegen, mein kleiner Aedion?", fragte sie lachend. Er boxte sie spielerisch auf den Arm. „Nenn mich nicht so, meine kleine Lysandra!" Lachend gab sie ihm einen Kuss und verwuschelte seine Haare. „Auf geht's!" Sie schlossen sich Aedions Eltern an, die auf die Treppe zusteuerten, die nach unten führte. Lysandra warf noch einen Blick auf die Stadt. Es war eine schöne Stadt, fand sie. Evangeline hätte sie sicher auch gefallen, aber sie hatte bei Darrow, Fleetfoot und Aelin bleiben wollen. Lysandra hatte ja den Verdacht, dass ihre Entscheidung nur an Fleetfoot lag - Evangeline liebte Aelins Jagdhündin - aber ganz sicher war sie sich nicht. Vielleicht wollte das junge Mädchen auch einfach etwas über das Regieren lernen, wo sie ja jetzt Darrows Erbin war. Lysandra drehte sich um und hakte sich bei Aedion unter. Zusammen verließen sie das Schiff und betraten Aedions frühere Heimat.

Es war wärmer hier als auf dem westlichen Kontinent. Eliza steuerte auf eine Stelle ziemlich nah am Ufer zu. Als sie offenbar gefunden hatte, was sie suchte, sprang sie freudig in die Luft und starrte aufs Wasser hinaus. Gavriel schlich sich von hinten an, wie er es schon vor so vielen Jahren getan hatte, und sagte: „Was führt euch in den Hafen, junge Dame?" Zwar nicht seine allerersten Worte an sie, aber etwas in der Richtung. Eliza drehte sich um und warf sich jauchzend in seine Arme. Mit Freudentränen in den Augen küsste sie ihn, bis sie nicht mehr konnte. Gavriel wirbelte seine Gefährtin umher. „Hier hat alles begonnen, Eliza", hauchte er ehrfürchtig und drückte ganz viele Küsse auf ihr Gesicht.

Aedion und Lysandra tauschten einen Blick und lachten. Es war einfach zu niedlich, wie sehr seine Eltern ineinander verliebt waren. Plötzlich hockte Eliza sich hin und beugte sich hinunter. Ehe Aedion sich's versah, küsste sie das Pflaster unter ihren Füßen. „Danke", schrie sie, „Oh danke, du gütiges Straßenpflaster. Danke für meinen Gefährten und unseren späteren Sohn, den ich durch dich kennenlernen durfte!" Eliza brach in Gelächter aus und erhob sich wieder. Aedion, Gavriel und Lysandra prusteten. „Ich würde ja auch dem Pflaster danken und es küssen, aber ich küsse lieber dich. Nicht, dass du noch eifersüchtig wirst!", scherzte Gavriel und küsste Eliza.

„Eliza, was meinst du? Wo soll unsere Reise beginnen?", fragte Gavriel. „Mhm... Ich weiß nicht recht. Wie wär's mit deinem alten Haus?", schlug sie vor. „Ja, sehr gerne." Er hakte sich bei ihr unter. „Aber... Eliza. Es... Entweder, es ist heruntergekommen und verfallen, oder ein neuer Besitzer wohnt darin", gab er zu bedenken. Elizas Schultern sackten nach unten. „Stimmt. Oh nein, daran habe ich gar nicht gedacht..." „Gehen wir einfach mal hin, in Ordnung? Wenn jetzt jemand anders darin wohnt, ist das doch schön, Eliza, dann ist das Haus immerhin nicht verfallen. Und vielleicht lässt uns der- oder diejenige ja unser altes Haus besichtigen. Und wenn es verfallen ist... Nun, dann können wir es auch nicht ändern."

Eliza nickte und stiefelte los. Aedion und Lysandra folgten Gavriel und Eliza. Eliza bemerkte nicht, wie alle Menschen auf den Straßen sich nach ihnen umdrehten und Elizas Flügel begafften, dazu war sie viel zu glücklich. Es wurde geflüstert und getuschelt, aber Eliza war in Gedanken nur bei ihrem Haus. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht, was sie schlimmer fände, vorzufinden: Ein kaputtes oder ein bewohntes Haus. Auf der Schifffahrt hatte sie ein paar Tage einen kühnen Gedanken verfolgt. Sie hatte sich gefragt, ob es eine Option wäre, mit Gavriel nach Varese zu ziehen. Schließlich war sie jedoch zu dem Schluss gekommen, dass sie dort leben wollte, wo ihr Sohn lebte - und das war nun einmal Terrasen. Außerdem fand sie Terrasen wunderschön und sie wollte nichts lieber, als einmal das ganze Land in all seiner Pracht zu erkunden. Sicher gab es dort sehr viele verwunschene Orte zu bereisen.

Und dann war da natürlich noch der Punkt, dass ihr in Varese zwar sehr viel Gutes, aber eben leider auch sehr viel Schlechtes widerfahren war. Nein, Terrasen war der Ort, an dem sie mit Gavriel leben wollte. Nicht Varese. Gavriel verschränkte seine Hand mit ihrer. „Ja, Terrasen", flüsterte er, „bei unserem Sohn." Eliza drückte seine Hand, dankbar für seine Zustimmung.

Etwas später bogen die Vier in die Straße ein, in der sich Gavriels altes Haus befand. Sowohl Gavriel, als auch Eliza, erinnerten sich gut an den Weg dorthin. Gavriel drückte aufmunternd Elizas Hand. Sie blickte ihn an und zwang ein unsicheres Lächeln auf ihre Lippen. Etwas mulmig war ihr schon zumute. Eliza und Gavriel nickten einander zu und ließen den Blick die Straße entlang schweifen.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWhere stories live. Discover now