Ein ungestümer Jungspund

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"Heinrich, setzen Sie sich hin, der Unterricht hat seit dreißig Sekunden angefangen!"

An manchen Tagen hasste Goethe seinen Job.  Gerade jetzt, wenn er an einem Freitagnachmittag eine Elfte unterrichten musste, die gerade erst aus den Ferien zurückgekehrt war. Gerade, wenn es Januar war, und draußen feiner Schnee rieselte, was die Kinder (denn in Goethes Augen waren sie das, allesamt) fürchterlich ablenkte. Und dann war es auch noch der LK, der ihm seit Anfang des Schuljahres auf den Senkel gegangen war. Er hatte drei ganz anständige Schüler*innen - Georg, Anu und Hassan - doch der Rest hatte den Deutsch-LK augenscheinlich nur gewählt, weil er den Ruf hatte, sowieso sehr einfach zu sein. Einfach als Mathe oder Geo, in jedem Fall. Goethe war da ganz anderer Ansicht, und seine Klasse würde es zu spüren bekommen.

Besagter Heinrich verdrehte die Augen und steckte sein sündhaft teures Smartphone nur halb in seine Hosentasche. "Aber Herr Goethe, ich bin doch grade erst -"

"Herr Doktor Goethe, soviel Zeit muss sein."

Henrich, mir grauts vor dir, dachte er sich noch, und der Lümmel, nun, lümmelte sich betont gelangweilt tiefer in seinen Stuhl.

Goethe war grummelig. Also, grummeliger als sowieso. Schiller war mit Schnupfen zuhause, die Kaffeemaschine im Lehrerzimmer war schon wieder kaputt, und jetzt musste er diesen rotzigen Elften auch noch etwas über den Sturm und Drang (diesen sentimentalen Schund) erzählen.

Mit einem müden Stöhnen ließ sich Heinrich auf seinen Stuhl in der letzten Reihe fallen. Sein Sitznachbar Georg warf ihm einen mitleidigen Blick zu und strich sich die langen Haare zurück. Goethe würde niemals verstehen, wie ein Schüler gleichzeitig in jeder Pause mit den übelsten Vertretern des Jahrgangs abhängen und später im LK seine philosophischen Ansichten über Kant in Grund und Boden diskutieren konnte. Und das konnte Georg. Der Junge wurde zwar immer wieder mit einem Siebt-Klässler verwechselt, aber das hieß nicht, dass er nicht jeder Gelegenheit zur Auseinandersetzung nutzen würde. Goethe fürchtete jetzt schon, das Georg Sturm und Drang lieben würde - das Thema vom Grenzübertritt schien wie für ihn maßgeschneidert zu sein.

"In Ordnung."

Goethe fasste sich an die Stirn und sortierte seine Folien, bevor er den Overhead-Projektor anwarf. Er war sich nie sicher, wie er dieses Teil nennen sollte - der Anglizismus war ihm ein Graus, aber das Wort Polylux war ebenfalls eine Schande, unsensibel aus Griechisch und Latein zusammengetackert. Die weiße Grundfläche des Smartboards hatte wenigstens den Vorteil, dass man darauf wunderbar projizieren konnte - Goethe weigerte sich, dieses neumodische Monstrum für irgendetwas anderes zu verwenden.

Es erschien eine Mindmap mit noch leeren Ästen, in deren Mitte das Wort "Sturm und Drang" geschrieben war. Mindestens drei Schüler stöhnten, Anu schien plötzlich drei Handbreit über deirem Stuhl zu schweben, und Georg lehnte sich mit einem unheilverheißenden Lächeln in seinem Stuhl zurück.

"Gut", sagte Goethe. "Wer von Ihnen kann mit dem Begriff etwas anfangen?"

"Genau wegen sowas habe ich nicht Geo gewählt" warf Heinrich ein, was ihm von Goethe nur ein müdes Lächeln einbrachte. Er nahm Anu ran.

"Das ist eine Literaturepoche", plapperte dey los, "Die sich besonders durch eine Ablehnung der Aufklärung und deren Effizienzdenken auflehnte. Dazu gehören auch-"

"Lassen Sie ihren Klassenkameraden noch was übrig", unterbrach Goethe und schrieb 'Epoche' und 'Ablehnung der Aufklärung' auf die Folie. Er mochte ja Schüler*innen, die viel wussten. Aber Schüler*innen, die seinen ganzen Stundenplan mit zu viel Vorwissen kaputtmachten, die musste er gezwungenermaßen abwürgen.

Goethe Zeiten, Schiller ZeitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt