Die Freistunde

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Der nächste Tag beginnt. Phillip wird gleich abgeholt und ich muss dann in die Schule. In den ersten zwei Stunden werde ich Frau Birk wiedersehen. Die ganze Nacht musste ich an gestern denken. Es war so schön, aber es verletzt mich, zu wissen, dass nie etwas aus uns werden kann. Ich habe heute Nacht deshalb nicht viel geschlafen.
Ich komme zur gleichen Zeit wie Frau Birk in den Klassenraum, doch sie schaut mich nur ganz kurz an. Alle setzen sich hin und wir fangen mit dem Unterricht an. Heute kann ich mich irgendwie besser konzentrieren als sonst... Trotzdem muss ich sie die ganze Zeit anschauen. Sie wirkt irgendwie fremd. Vielleicht hilft mir das auch, bei der Sache zu bleiben.
Es ist Pause und danach haben wir zwei Freistunden, weil unser Physiklehrer krank ist. Ich könnte nach Hause gehen, entscheide mich aber dazu, in der Schule zu bleiben und mir einen Kakao beim Kiosk zu kaufen. Damit setze ich mich auf den Schulhof und zeichne. Nach etwa 20 Minuten läuft Frau Birk über den Schulhof. Als sie mich sieht, kommt sie zu mir. Ich versuche, nicht zu zeigen, wie sehr ich mich gerade freue. Sie lächelt mich an. "Na, alles gut?", fragt sie. Ich nicke. "Und bei Ihnen?" Sie sagt: "Ja." und setzt sich neben mich. Ich klappe mein Sketchbook zu. "Lass das ruhig offen... darf ich sehen?", sagt Frau Birk. Ich zeige ihr ein paar Seiten, und sie scheint sie zu mögen. Allerdings sind viele meiner Zeichnungen eher etwas dunkel und spiegeln oft meine Gedanken oder Emotionen, wenn es mir nicht so gut geht, wider. "Wow, du bist echt talentiert und kreativ, aber bist du dir sicher, dass es dir gut geht?", kommt von ihr. Ich schweige und überlege, ob ich ihr von meinen Sorgen erzählen soll. "Naja... nicht immer...", sage ich leise. "Ist es wegen der Schule?" Ich schüttel den Kopf. "Familie?" Diesmal zucke ich mit den Schultern, aber nicke auch. "Ich verstehe mich nicht so gut mit meinen Eltern. Es gibt etwas an mir, das sie nicht akzeptieren und deshalb wohne ich auch nicht mehr zu Hause. Wir sehen uns selten, nur mein kleiner Bruder ist manchmal für ein paar Tage bei mir. Mit meiner großen Schwester verstehe ich mich zwar auch, aber wir haben nicht viel Zeit, um uns zu sehen. Es ist kompliziert... aber ist ja auch egal." Hätte ich das wirklich sagen sollen? Vielleicht war das dumm... sie mit meinen Sorgen vollzulabern. Scheiße. Und jetzt sagt sie nicht einmal etwas. Ich hole tief Luft.
Plötzlich höre ich von ihr: "Es ist nicht egal. Das hört sich wirklich kompliziert an. Aber du kannst stolz auf dich sein, dass du sowas ganz alleine schaffst. Ich wüsste gerne, was deine Eltern an dir nicht akzeptieren, nur wenn du dich damit wohlfühlst, es zu erzählen, natürlich." Die meisten Leute "erkennen" schon an meinem Aussehen, das ich auf Frauen stehe. Ich hab eher kurze Haare und trage fast nur Männerkleidung. Deshalb denke ich auch, dass sie schon eine Ahnung hat, was meine Eltern nicht an mir akzeptieren. Ich finde es voll süß, wie sie gerade zu mir ist. Ich fange an zu sprechen: "Ich würde ja jetzt sagen, dass ich Girl In Red höre, aber das verstehen Sie wahrscheinlich nicht-" sie fängt an, zu schmunzeln. Ich schaue sie erstaunt an. "Sie auch?!", frage ich sehr überrascht. Sie lächelt und nickt: "Ich bin bi". Voller Freude vergesse ich, worüber wir eigentlich geredet haben. "Und nur weil du auf Frauen stehst, musst du jetzt alleine leben?", fragt Frau Birk. Ich sag wieder etwas traurig: "Ja, ist ja eine Sünde". Sie sagt: "Das ist echt krass..." Ich nicke nur nachdenklich.
Sie schaut auf die Uhr. "Du, ich muss leider los. Ich hab gleich einen Termin. Wir sehen uns ja in ein paar Tagen wieder. Aber falls was sein sollte, kannst du mir jeder Zeit eine Mail schreiben." sagt sie und steht auf. Ich sage nur: "Danke" und lächel sie nochmal an. Dann geht sie.

Autumn EyesDonde viven las historias. Descúbrelo ahora