Kapitel 4

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Unser Platz lag fast direkt am Meer. Man konnte es zwar nicht richtig sehen, weil mehrere Büsche und eine Klippe dazwischenlagen, aber als ich endlich aus dem Bus ausstieg, roch ich es. Eine leichte, salzige Sommerbrise wehte durch meine Haare und ich schloss fast von selbst die Augen. Unter mir klatschten die Wellen leise gegen die Felsen und die leicht rötliche Abendsonne schien auf mein Gesicht.
Ich stand schon eine ganze Weile so da, an der Motorhaube des Busses gelehnt, als ich rechts hinter mir Schritte hörte.
"Amelie!", rief Matt etwas außer Atem. "Hier bist du also." Ich grinste ihn an. "Was hättest du denn gedacht?" Er zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mit Lou und mir runter zum Strand kommen willst."
Er warf mir meinen Bikini zu und ich fing ihn geschickt auf. So wie es aussah, ließen die beiden mir sowieso keine Wahl, aber das war nicht schlimm. Eine kleine Abkühlung würde uns allen gut tun."Meinetwegen. Dann zieh ich mich kurz um und komme nach?", schlug ich vor. "Okay", meinte Matt und verschwand wieder. Ich sah ihm noch eine Weile hinterher, wie er zu Lou ging, die an der Klippe lehnte und die Aussicht filmte, bevor ich in den leeren Bus stieg und mich umzog.

Zehn Minuten später kletterten wir zu dritt den gefährlich aussehenden Pfad zum Strand hinab und ich musste höllisch aufpassen, dass ich nicht auf irgendwelchen Steinen ausrutschte. Die Strecke war sehr eng und sehr steil - nicht gerade die beste Kombination. Wenigstens lief ich genau zwischen meinen besten Freunden, was bedeutete, dass das Risiko, hinzufallen deutlich kleiner war. Trotzdem waren wir alle - Matt eingeschlossen - sehr erleichtert, als wir den Strand erreicht hatten.
"Wow, ist das schön hier", sagte Lou und grub ihre Zehen in den weißen Sand. Wir waren die einzigen Leute hier, was das Ganze umso genialer machte. "Da hast du Recht", stimmte ich ihr zu und lächelte. Die untergehende Sonne spiegelte sich im roten Wasser und ein paar Möwen flogen über unsere Köpfe hinweg. Es war einfach nur perfekt.
Matt verzichtete darauf, seine Füße in den Sand zu stecken und ging sofort ins Wasser. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, sein T-Shirt auszuziehen, sondern ließ sich gleich mit einem lauten Geräusch in die Wellen fallen. Die Wasseroberfläche schloss sich wieder über ihm, doch anstatt wieder aufzutauchen, blieb Matt verschwunden.
"Scheiße!" Lou befreite umständlich ihre Füße aus dem Sand und lief zum Wasser. "Matt? Alles okay?" Keine Reaktion. "Matt!" Sie lief ein paar Meter tiefer ins Meer unf wühlte mit ihren Händen das graublaue Wasser auf. Mein bester Freund tauchte währenddessen hinter ihr auf und klatschte ihr lachend seine nasse Hand auf den Rücken. Doch offenbar fand Lou das nicht so witzig wie er.
"Was soll das?", beschwerte sie sich. "Jetzt sind meine Klamotten nass!" Matts Grinsen wurde breiter. "Na und? Meine doch auch." Er bewegte sich leicht, sodass kleine Wellen entstanden, die den Saum von Lous Sommerkleid dunkel färbten.
"Hör auf", sagte sie verärgert, aber an ihrem Tonfall erkannte ich, dass die Erleichterung überwog.
Dann drehte sie sich um und sah zu mir. "Komm doch auch her", rief sie.
Langsam ging ich auf das Wasser zu. Meine Füße hinterließen dünne Spuren im feinen Sand und ich genoss das Gefühl, bei jedem Schritt ein kleines bisschen einzusinken. Als ich das Wasser erreicht hatte, wurde der Boden fester und kühler und der Wind etwas stärker. Aber vielleicht kam mir das nur so vor, weil ich näher am Meer war.
"Hey", meinte Matt, "Lust auf ne kleine Abkühlung?" Er nahm eine Hand voll Wasser und ließ sie über meine Schulter fließen. Ich zuckte zusammen. Es war nicht kalt, aber doch um einiges kälter als ich erwartet hätte. Im selben Moment spülte eine Welle um meine Beine und mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich verlor das Gleichgewicht und stürtzte - genau wie Matt vorhin - ins kühle Meer. Die Wasseroberfläche schlug über meinem Kopf zusammen und auf meinem ganzen Körper breitete sich eine Gänsehaut aus. Als ich wieder auftauchte, brannten meine Augen von dem Salzwasser und mein Kleid klebte wie angegossen an mir.
Matt sah mich schief von der Seite an, wobei er ganz dezent ein paar Wassertropfen aus seinen hellblonden Haaren schüttelte. "Ich glaube, es war keine so gute Idee, mit Klamotten ins Meer zu gehen. Wegen mir können wir gerne wieder hochgehen, mir wird nämlich langsam echt kalt." Während er sprach, klapperte er leicht mit den Zähnen und ich erkannte, dass auch er blaue Lippen hatte.
Lou nickte zustimmend. "Ja, das wäre wohl das Beste. Und bevor ich auch noch komplett nass werde...", sie warf Matt einen warnenden Blick zu, "... machen wie uns lieber auf den Weg zum Bus. Wäre ja blöd, wenn ihr jetzt krank werdet." Dankbar sah ich die beiden an. Eine heiße Dusche war jetzt das einzige, was ich brauchte. Gut, vielleicht auch noch ein bisschen Schlaf.

Als ich eine halbe Stunde später von den Waschräumen zurückkam, bemerkte ich schon ein paar Meter vor unserem Bus einen leicht angebrannten Geruch. David und Matt hatten es anscheinend geschafft, unseren Campinggrill anzuschmeißen, auf dem neben Paprika und Maiskolben ein paar knallrote Würstchen lagen. "Was ist das denn?", fragte ich und deutete darauf.
"Rød Pølse", erwiderte David, während er ein langes Brötchen aufschnitt, "das eine dänische Spezialität und wird im Prinzip genauso wie ein Hotdog gemacht."
"Vorausgesetzt man kann das überhaupt essen", ergänzte Matt lachend. "Gesund sieht das jedenfalls nicht aus." Sein Bruder verpasste ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.
"Hör nicht auf ihn", sagte er zu mir, "es gibt keinen Unterschied zwischen den Würstchen hier und den deutschen. Und außerdem hat Matt schon ganz andere Sachen überlebt."
Gerade als ich nachfragen wollte, was das für andere Sachen sein sollten, trat Lou aus dem Bus. "Ich hab gehört, es gibt was zu essen?"
Sie warf einen Blick auf den Grill. "Ist das genießbar?", fragte sie etwas misstrauisch. Matt öffnete schon seinen Mund, um die dänischen Würstchen schlechtzumachen, aber David schnitt ihm das Wort ab. "Klar. Die sind auch gerade fertig geworden." Er fing an, die Sachen vom Grill auf zwei verschiedene Teller zu verteilen. "Super", freute sich Lou, "ich hab nämlich echt Hunger." Da war sie nicht die einzige. Wir alle vier schlugen ordentlich zu, aber der Großteil ging eindeutig auf Matt. Denn obwohl er sich zuerst weigerte, einen Hotdog mit Rød Pølse zu essen, konnte er letztendlich nicht bestreiten, wie gut sie ihm eigentlich schmeckten.
Genau wie David gesagt hatte, waren sie wirklich wie die Wiener Würstchen bei uns Zuhause und gegen die hatte Matt noch nie etwas einzuwenden gehabt.
"Schade, dass es die nicht in Deutschland gibt", nuschelte er zwischen zwei Bissen. "Wir müssen unbedingt noch ein paar kaufen, bevor wir weiter fahren." Lou, David und ich tauschten ein paar verstohlene Blicke aus. Schon lustig, dass diese Aussage ausgerechnet von Matt kam.
"Können wir gerne machen", sagte David, "die Verkäuferin hat mir sowieso ein paar zu wenig eingepackt."
"Dann wirds ja höchste Zeit, dass wir Nachschub holen", erwiderte ich und warf einen Blick auf den fast leeren Wurstteller.
"Oh ja", bestätigte Matt, "Ich brauche unbedingt noch mehr davon."
"Du hattest schon mindestens fünf." Lou starrte auf die Würstchen, als wären sie giftig, was mich nicht überraschte. Als Vegetarierin konnte sie an ihnen keinen großen Gefallen finden.
"Sechste", verbesserte Matt, während er die letzte Wurst aufspießte und auf seinen Teller lud.
"Will noch jemand Mais?", wechselte David das Thema und schwenkte den Teller mit dem Gemüse herum. Matt und ich schüttelten die Köpfe, aber Lou nahm ihre Gabel und piekste den letzten Maiskolben auf.
Zufrieden schob ich meinen Teller von mir und lehnte mich zurück. Während des Abendessens war ich müde geworden, weshalb ich beschloss, relativ früh ins Bett zu gehen.

Immerhin hatten wir morgen noch viel vor uns.

Road Trip to EuropeWhere stories live. Discover now