Kapitel 5

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Nordborg war ein kleines Küstenstädtchen an der Ostsee. Es hatte eine Strandpromenade mit einem sensationellen Blick auf das weite Meer und eine überschaubare Altstadt. Die vielen kleinen Läden und Cafés, die sich um einen Flohmarkt aneinanderreihten, der Brunnen in der Mitte und der rote Pflasterstein passten irgendwie total gut zueinander. Doch schon alleine das bunte Treiben und die Gesprächsfetzen sorgten für eine angenehme Athmosphäre. Genau wie am Vortag schien die Sonne wieder am wolkenlosen Himmel und selbst um elf Uhr morgens war es schon so warm, dass ich problemlos Shorts und T-Shirt tragen konnte.
Ich setzte meine Sonnenbrille auf und ließ den Blick durch die Menge schweifen. Lou und ich waren zu zweit losgezogen, um den Flohmarkt unsicher zu machen. Wir beide liebten es, durch alte Kisten zu wühlen oder irgendwelche schrägen Hüte oder Brillen anzuprobieren und dafür waren diese Stände genau richtig.
Und auch heute dauerte es wie immer nicht lange, bis meine Freundin eine Ecke mit alten Acessoires gefunden hatte.
"Amelie, schau das mal an!", rief sie begeistert. Sie hob eine zerzauste, schwarze Perücke hoch und setzte sie auf. "Jetzt seh ich fast so aus wie du." Ich schüttelte den Kopf. Viel Ähnlichkeit mit meinen eigenen Haaren hatte dieses Ding wirklich nicht. "Jetzt guck nicht so", grinste Lou, "war doch nur ein Scherz." Sie machte eine seltsame Pose, während sie sich an einen alten Schrank lehnte.
Wie auf Kommando lachten wir gleichzeitig los und ernteten dafür einige Blicke von anderen Besuchern. Ich verstummte und zusammen durchstöberten wir den Stand weiter. Neben ein paar echt altmodischen Zylinderhüten fanden wir auch noch einige alte Blumenvasen und weitere Perücken, die irgendwie so aussahen, als hätten sie schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel.
"Meine Güte, was ist das denn?" Lou war schon weitergelaufen und hatte jetzt einen sehr alten, rostbraunen Schaukelstuhl mit einem bestickten Kissen im Visier. "Stell dir mal vor, du hast so ein Teil im Wohnzimmer..."
Sie machte Anstalten, sich hineinzusetzen, doch eine alte Frau hielt sie davon ab, indem sie Lous Arm packte und mit einem nicht ganz so freundlichem Gesichtsausdruck auf sie einredete. Auf Dänisch, versteht sich.
Lou riss sich los und versuchte verzweifelt, sich gegen den Redeschwall der Frau durchzusetzen, aber sie hatte keine Chance. "Sorry", rief meine Freundin schließlich verzweifelt auf englisch, "I didn't want to..."
Plötzlich kam ein junger Mann und zog die Frau von Lou weg. Ich verstand natürlich nicht, was er zu der älteren Frau sagte, aber der Tonfall war in etwa derselbe wie ihr eigener.
Kurz danach kam er alleine wieder und schüttelte fassungslos den Kopf. "Entschuldigung", sagte er in gebrochenem Deutsch, "Mein Mutter lieben diesen Stühl sehr."
Da Lou immer noch unter Schock stand, ergriff ich das Wort. "Es ist schon in Ordnung. Danke für Ihre Hilfe."
Der Mann nickte und verschwand. Ich nutzte die Gelegenheit und schob Lou sanft von dem Stand weg. "Mach dir nichts daraus, die hat das doch nicht böse gemeint."
Lou riss die Augen auf und drehte sich aprupt zu mir um. "Hast du nicht gesehen, wie die drauf war? Vollkommen irre!" Sie blieb stehen. "Ich will hier weg. Komm, lass uns die anderen suchen gehen."  
Mein Blick wanderte schon fast automatisch über den Trödelmarkt und blieb schließlich an einem kleinen Büchertisch hängen. "Warte mal...", sagte ich, "können wir noch einmal kurz zu den Büchern dahinten gehen?" Widerwillig verzog Lou das Gesicht. "Meinetwegen. Aber bitte nicht zu lange." Ich lächelte sie an und schüttelte den Kopf. "Versprochen."
Lou lächelte schwach zurück. Sie kannte meine Leidenschaft für Bücher und alte Geschichten zu gut, um mir diesen Gefallen abzuschlagen.
"Aber du weißt schon, dass die Bücher alle auf Dänisch sind?", fragte sie vorsichtig. Ich zuckte nur mit den Schultern. Daran hatte ich eigentlich nicht gedacht, aber im Prinzip war es auch nicht wichtig. Allein schon die Einbände waren besonders genug, um stehen zu bleiben. Der Verkäufer sah  auch viel sympathischer aus als die Frau von gerade eben und lächelte uns gut gelaunt an.
Erleichtert bemerkte ich, wie Lou sich entspannte und mit mir die Bücher begutachtete. "Schau mal, wie süß." Ich hielt ein dänisches Exemplar der Raupe Nimmersatt hoch und dachte sofort an meine kleine Schwester Laura. "Erinnerst du mich daran, dass ich später noch eine Postkarte kaufen muss?" Das durfte ich auf keinen Fall vergessen.
Lou sah zu mir auf. "Klar."
Der Verkäufer kramte geräuschvoll in einer der Kisten herum und wir beide hielten inne. Er zog ein blau eingebundenes Buch heraus und wischte mit seiner Hand kurz darüber, bevor er es mir reichte. Ich schlug es verwundert auf. Es war ein deutsches Märchenbuch mit Märchen aus ganz Europa. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie gefiel es mir. Ich mochte Märchen, denn sie gaben mir die Gewissheit, dass sich alles wieder zum Guten wenden konnte, egal was davor geschehen war. Sie hatten mir in manchen Momenten Hoffnung gespendet, in denen ich schon aufgehört hatte, nach vorne zu blicken. Und sie erzählten Geschichten von einer Welt, in der es noch Helden gab, die für eine Prinzessin ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen würden. Märchen hatten für mich schon immer irgendeine Bedeutung gehabt, aber als Laura auf die Welt gekommen war, hatten meine Eltern aufgehört, mir welche vorzulesen. Seitdem hatte ich eigentlich kein Märchen mehr in der Hand gehabt, doch naiv wie ich war, hatte ich insgeheim trotzdem nicht aufgehört, an Helden zu glauben. Bis heute.    
Hastig kramte ich in meiner Tasche nach meinem Geldbeutel, denn ich wollte dieses Buch unbedingt haben. Der Verkäufer war seltsamerweise überhaupt nicht überrascht, als ich ihm das Geld geben wollte. Es wirkte fast so, als hätte er damit gerechnet, dass ich vorhatte, dieses Buch zu kaufen. Er versuchte auch gar nicht erst, mit mir auf Dänisch zu reden, da ihm wohl klar war, das das sowieso nicht funktionieren würde. Was ihn gleich um Welten sympathischer machte.
"Tak", sagte ich. Danke. Das einzige Wort Dänisch, das ich konnte. Der Verkäufer lachte breit und winkte uns zum Abschied zu. "Siehst du", flüsterte ich Lou zu, "es gibt hier auch nette Menschen."
Lou hakte sich bei mir unter. "Stimmt. Übrigens, dahinten sind Matt und David." Tatsächlich: Die beiden Jungs lehnten lässig an einer Hauswand und aßen ein Eis. Sofort stürmte meine beste Freundin auf sie zu und begann, von der verrückten Frau zu erzählen, bevor sie überhaupt angekommen war.
Ich schlenderte etwas langsamer hinterher und beobachtete grinsend, wie Lou die ganze Geschichte etwas dramatischer gestaltete als sie eigentlich stattgefunden hatte . 
"Und was hast du da?", fragte mich David und deutete auf das Buch. Ich verstaute es schnell in meiner Tasche.
"Nichts." Auch wenn ich ihn schon ewig kannte, war es mir doch irgendwie peinlich, zuzugeben, dass ich mir gerade eben ein Märchenbuch gekauft oder besser geschenkt bekommen hatte. Leider wurde ich ausgerechnet in dem Moment rot und ich verfluchte mich innerlich dafür, dass ich so schlecht lügen konnte. Wobei selbst schlecht nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Ich konnte es gar nicht.
Umso erleichterter war ich, als Matt mich aus dieser unangenehmen Situation rettete.
"Also ich hätte Hunger", sagte er an uns alle gerichtet,  "Dahinten ist ein Fischrestaurant. Wollen wir da reingehen?" Lou sah ihn skeptisch an. "Du hast doch gerade noch ein Eis gegessen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du jetzt noch Appetit auf Mittagessen hast." Matt grinste. "Klar hab ich Appetit. Das müsstest du doch eigentlich wissen." 

So kam es, dass wir uns zu viert auf den Weg in ein kleines Bistro machten, das an der Strandpromenade lag. Es gab dort hauptsächlich Fisch, aber der war so lecker, dass sogar Lou ordentlich zulangte, obwohl sie sonst fast immer auf Fleisch verzichtete.
 "Hätte nicht gedacht, dass die Dänen so gutes Essen machen", sagte Matt bei seiner zweiten Portion.
"Ich auch nicht", gab ich zu. Sowohl die Würstchen, als auch der Fisch hatten mich angenehm überrascht. Entweder hatte Matt recht oder wir hatten einfach nur Glück.
"Aber das sind ganz schön große Portionen, oder?", bemerkte Lou, als sie die Reste auf ihrem Teller betrachtete. Eigentlich hatte sie nicht einmal wirklich wenig gegessen, aber anscheinend war ihr das trotzdem zu viel.
"Was?", fragte Matt kauend. Er schuckte einen großen Bissen herunter. "Bist du schon satt?"
Während Lou in etwa zwei Drittel ihrer Portion gegessen hatte, schob Matt bereits seinen zweiten Teller von sich.
Und er spielte mit dem Gedanken, noch mehr zu verspeisen, denn sein Blick auf Lous Fisch sprach Bände.
Meine beste Freundin reichte ihm als Antwort ihr übriggebliebenes Mittagessen quer über den Tisch. "Hier", sagte sie lachend, "damit du nicht verhungerst."
Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen beobachtete ich, wie Matt Lous Teller innerhalb kürzester Zeit wegputzte. Wenn er nicht so viel Sport machen würde, wäre er locker fünfzig Kilo schwerer. Ich wusste allerdings nicht so genau, ob er wegen dem Essen so viel Sport machte, oder ob er wegen dem Sport so viel aß. Klar war nur: Es hing irgendwie zusammen. Die drei Teller vor Matt stapelten sich auf jeden Fall nicht ohne Grund.
Es wurde
"Kommt, Leute!", riss David mich aus meinen Gedanken. "Das hier ist zwar unser letzter Nachmittag, aber wer sagt denn, dass wir den nicht nutzen können?"

Road Trip to EuropeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt