Into the Woods

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Es war einmal – so beginnen Märchen, richtig?

Jeder kennt sie von frühester Kindheit an und sie begleiten uns ein Leben lang. Wir hören sie von unseren Großeltern, von Vater und Mutter, dann irgendwann erzählen wir sie unseren Kindern, und das hat seinen Grund: Sie wollen uns etwas mitteilen. Sie geben uns eine Orientierung im Leben. Was ist gut, was ist böse? Wie sollen wir uns verhalten? Vielleicht am aller wichtigsten: Wovor sollen wir uns hüten.

Carrie hatte all dies nie erfahren dürfen oder sie ignorierte es, denn sie begab sich vollkommen unbedacht in den dunklen Wald, weiter hinein als die Spaziergänger mit Hunden, ja sogar noch, als es die Wanderer und Mountainbiker taten. Sie sah sich selbst als Abenteurerin, vielleicht gefiel ihr auch die Idee, ein furchtloser untypischer Teenager zu sein, eine Art Entdeckerin von zerklüfteten Felsspalten, ausgehölten Bäumen und unheimlich anmutendem Dickicht.

Als sie so eines Tages zu einer weit abgelegenen Lichtung kam, da entdeckte sie ihn: den rätselhaften Mann, dessen Anblick sie in seinen Bann zog. Er durchschweifte das kniehohe Gras mit einer Lässigkeit, die Carrie an die eines edlen Raubtiers erinnerte. Groß wirkte er, kräftig und nicht ganz von dieser Welt. Es mochte daran liegen, dass seine Kleidung seltsam altmodisch wirkte. Er trug keine Jeans oder Outdoorjacke, wie man es annehmen sollte, sondern stattdessen eine Hose aus leichtem Wollstoff, dazu ein naturweißes leinenes Hemd mit weiten Ärmeln und einem auffälligen Kragen. Zudem lief er barfuß, was ihm trotz des Waldbodens nichts auszumachen schien. Carrie wollte ihm unbemerkt folgen, doch das funktionierte nicht. Sie hielt extra einen gewissen Abstand, denn sonst bestand die Gefahr, dass er sie bemerkte. Immerhin trug sie ihre Gummistiefel und bewegte sich nicht annähernd so lautlos wie der Fremde.
Schließlich gab sie auf, als sie bemerkte, dass ihr Handy keinen Empfang mehr hatte und der Akku schon ziemlich leer war. Sie wollte nicht riskieren, sich ohne Google Maps zu verlaufen. Carrie markierte also die Stellen, an der sie den Mann zuerst gesehen und wo sie ihn verlassen hatte, dann machte sie sich auf den Rückweg.

Schon am nächsten Tag hielt es sie vor Neugier nicht mehr zu Hause aus. Sie schwänzte sogar die Schule, nur um sich wieder in den Wald zu wagen. Doch sie hatte kein Glück. Auch am nächsten und übernächsten Tag nicht. Vielleicht war der Mann nur zufällig auf der Lichtung gewesen und hatte dort normalerweise nichts verloren? Carrie beschloss, nicht aufzugeben.

Endlich, in der folgenden Woche hatte sie Glück – oder auch Pech, wie man’s nimmt.
Sie musste sich bei ihrer Suche etwas geirrt haben, denn der geheimnisvolle Fremde kam zwar abermals über eine Lichtung gelaufen, doch war diese gänzlich anders als die, welche Carrie von der ersten Begegnung in Erinnerung geblieben war. Überall ringsum standen mannshohe, leuchtend violette Fingerhüte in hüfthohem Gras, die unmöglich in nur einer Woche gewachsen sein konnten. Die hätte sie nicht übersehen … Er war unverkennbar derselbe Wanderer und wenn möglich, wirkte er noch anziehender auf Carrie als beim letzten Mal. Verschwitzt sah er aus – kein Wunder bei der Hitze - aber auf eine äußerst attraktive Art. Sein dünnes Hemd schmiegte sich an den muskulösen Oberkörper und er hatte es zur Hälfte aufgeknöpft, sodass seine Beobachterin erspähen konnte, wie der Schweiß auf seiner Brust glänzte. Ohne zu überlegen, folgte sie ihm in einigem Abstand. Seine Spur im hohen Gras war leicht zu verfolgen und die Fingerhüte gaben ihr zusätzliche Deckung. Die ganze Zeit überlegte Carrie, was er wohl allein so tief im Wald machte. War er ein Aussteiger? War er auf der Flucht?

Bald schon hatten sie die Lichtung durchquert und das Mädchen musste es wagen, dichter hinter dem Mann aufzuschließen, um ihn nicht zu verlieren. Sein Weg führte nun durch Farnsträucher und unter hohen Buchen und Fichten entlang. Schließlich hatte er sein Ziel erreicht und Carrie, geduckt hinter dichtem Gebüsch, glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Da stand doch tatsächlich eine Blockhütte mitten im Wald. Aber warum? Es gab keinen Forstweg, der dorthin führte und auch sonst nichts, was darauf hindeutete, dass ein Bewohner Besuch erwartete oder mit einem Geländewagen in den Ort fahren würde.

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