Kapitel 6

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E L L E


In weniger als acht Stunden muss ich arbeiten, aber ich liege wie gelähmt in meinem Bett. Zwinge mich dazu, noch ein wenig zu schlafen, dabei ist mir völlig klar, dass das unmöglich ist. In meinem Kopf hämmert es. Kein Wunder bei den Gedanken, die wahllos in ihm herumfliegen. Ich stelle mir vor, wie sie sich tummeln, zanken und gegen die Seiten meines Schädels prallen. Genau dort, wo ich es an den Schläfen spüren kann.

Keine Ahnung, was beklemmender ist. Das tiefschwarze Loch, das sich durch meine Seele frisst, oder mein Leben im Allgemeinen.

Ich habe nichts, nichts, nichts.

Ich zerre an meinem Kissen und presse es mir auf das Gesicht, eliminiere das Licht und hülle mich in die Dunkelheit. Wieso wirken andere in meinem Alter nur immer so kompetent, so selbstsicher und entschlossen, als hätten sie immer gewusst, dass sie Bürgermeister, Arzt oder Mechatroniker werden wollten? Mag sein, dass auch ihr Alltag nicht problemlos verläuft, aber immerhin haben sie etwas, an dem sie sich festhalten können. Wäre ich den normalen Weg gegangen, könnte ich heute eine von ihnen sein. Eine Studentin vielleicht.

Stattdessen liege ich hier und weiß, dass ich mich auch in drei Jahren noch an diesem Ort befinden werde. Ich schaffe es nicht, mich zu überwinden und aus dem Käfig auszubrechen. Mir fehlt das, was die anderen voranbringt. Ob es daran liegt, dass sie sich mehr wert sind? Dass sie bereit sind, einen Versuch zu riskieren?

Wie würde mein Ziel aussehen?

Mühsam versuche ich, ein Bild vor mein inneres Auge zu projizieren. Ich sehe mich auf dem Campus, in einer Vorlesung, bei meinem Abschluss, doch ich schaffe es nicht, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Es sieht gequält aus, so wie immer, wenn ich auch nur daran denke, dass ich schon zweiundzwanzig bin und noch nichts Richtiges geschafft habe, das mich zu irgendetwas qualifiziert, was nichts mit dem Tanzen zutun hat. Denn zu tanzen ist längst keine Option mehr.

Alles meine Schuld.

Die Luft wird knapp, ich warte. Sekundenlang. Stelle mir vor, wie ich inmitten einer Freundesgruppe stehe. Doch jedes winzige Detail bestätigt mir nur noch mehr, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. Und keine dieser Ideen kann das retten, was ich bereits verloren habe: das Vertrauen in mich selbst.

Ich glaube nicht daran, jemals etwas zu erreichen.

Ich weiß, dass ich ein Versager bin.

Gegen Mittag kann ich die frustrierenden Gedanken hinter mir lassen. Vor der Arbeit kaufe ich mir einen Bagel von dem letzten Rest an Kleingeld, das ich zusammenkratzen kann. Wie in Trance esse ich und kriege kaum mit, dass Evie gerade das Schild vor dem Coffee-Shop neu beschriftet, als ich ankomme.

„Hey, du Schlafmütze!", ruft sie mir nach.

Ich drehe mich auf der Stelle um und kann gerade noch einem Stück Kreide ausweichen, das sie nach mir geworfen hat. Empört stemmt Evie die Hände in die Seiten.

„Hey ..." Ich fahre mir über das Gesicht und bemühe mich innig, nicht zu gähnen.

Langsam wird Evies Mimik weicher. Sie lässt die Arme sinken und kommt näher. „Alles klar bei dir? Schlecht geschlafen?"

Ich nicke mühsam.

„Hör zu, wenn dir unsere Verabredung nachher zu viel wird, dann können wir das auch verschieben.", schlägt sie vor und bückt sich nach dem Stück Kreide vor ihren Füßen, die in schwarzen Vans stecken.

Irgendetwas in mir will dieses Angebot annehmen. Es wäre einfacher. Keine Begründungen, keine Ausreden. Jedoch werde ich dieses Treffen nachholen müssen, sobald es mir besser geht. Allein das lässt den Druck in meiner Brust wieder wachsen.

Wenn die Sterne für uns leuchtenDonde viven las historias. Descúbrelo ahora