Kapitel 4

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Mit brummenden Kopf wachte Cassandra langsam auf. Der Schleier der Müdigkeit und Dunkelheit nahmen sie wie ein Käfig ein, aus dem sie sich zu befreien versuchte. Ihr Körper war schwer und wollte ihr nicht gehorchen.
Im ersten Moment erinnerte sie sich nicht daran, was geschehen war, doch Salvators Stimme sowie die seines Vaters brachten ihr Blut in Wallung. Trotzdem blieb sie ruhig liegen und tat so, als würde sie schlafen, um das Gespräch der beiden mitzubekommen.

"Musstest du sie denn so stark ausknocken? Ein kleiner Schlag hätte sicherlich auch gereicht", sagte Salvator und Cassandra hörte wie das Oberhaupt der Schule lachte.

"Mein lieber Sohn, hat sie dir so stark den Kopf verdreht?", fragte er belustigt und Cassandra konnte sich vorstellen, dass Salvator beleidigt war. Auch wenn es sein Vater war, hatte Cassandra bemerkt, dass er es nicht mochte, von ihm aufgezogen zu werden. Wahrscheinlich war das bei allen Männern, die so arrogant und gemein waren, so. Außerdem glaubte sie nicht, dass Salvator verliebt war. Dazu ärgerte er zu gerne. In ihr brodelte es. Konnten die beiden nicht endlich zur Sache kommen? Wenn sie schon so hinterrücks ausgeknockt wurde, wollte sie auch den Grund wissen!

"Wo denkst du hin", antwortete Salvator, doch Cassandra hörte Verlegenheit aus seiner Stimme heraus.

„Gefährlich, mein Lieber", meinte sein Vater seufzend.

„Sie ist nicht die Richtige für dich."

Cassandra öffnete ein kleines Stückchen ihre Augen und sah die beiden Männer. Wo war sie? Der Boden war kalt und schneebedeckt. Die Kälte kroch in ihre Glieder und ließen sie mit jeder verstreichenden Sekunde wacher werden.

"Du weißt doch überhaupt gar nicht, wie sie wirklich ist", entgegnete Salvator nun wütend.

„Als ob du das weißt", schnaubte sein Vater verächtlich.

„Lass dich nicht von ihr einlullen. Sie ist ...", sagte er und drehte seinen Kopf zu Cassandra, die sich die größte Mühe gab, ruhig zu bleiben, „genau diejenige, nach der ich gesucht habe."

"Was soll das heißen?", rief nun Cassandra wütend, die nicht länger so tun konnte, als das sie bewusstlos wäre. Sie öffnete wütend ihre Augen und starrte die beiden mit roten Pupillen an. Cassandra stand auf und wischte sich den Schnee von der Kleidung. Auffordernd und mit in die Hüften gestemmten Händen ließ sie ihren Blick über beide schweifen. Es nervte sie, dass keiner der beiden plötzlich den Mund aufmachte. Waren sie überrascht?

„Redet!", rief sie ungeduldig. In ihr brodelte es immer mehr und sie hatte Probleme, sich unter Kontrolle zu halten. Das Blut pulsierte durch ihren Körper und hinterließ eine Spur von Wut. Was fiel den beiden ein, sie niederzustrecken und zu entführen? Zwar waren sie noch in der Schule, das spürte Cassandra an der Anwesenheit der Nachtkreaturen, doch nicht mehr im Gebäude.

"Me santri, eraklad deri nasvra. Rag desam esch, kry ma ella sas potro. Krylasch ak mesra dra wisa makri. Pri slisch allamkre darkos trus pikrat keratam akri amakristra, filas al gritresch", gab er Cassandra als Antwort und schrie in die Nacht hinaus. Cassandra verstand nur Bahnhof, doch ein plötzlicher Schmerz schoss ihr durch ihren Körper. Das Herz, welches in ihrer Brust seit Jahrzehnten geruht hatte, schlug einmal kräftig und suchte sich wieder den Puls zurück, den sie einst als ein Mensch besessen hatte. Das konnte doch nicht möglich sein, schrie Cassandra in ihrem Kopf und griff sich schmerzhaft an ihre Brust. Die Wolken, die den Himmel bisher verdeckt hatten, verzogen sich und ein großer rötlicher Mond zeigte sich von seiner schönsten Seite. Cassandra starrte diesem Mond entgegen und sie schrie, als ihr Kopf drohte zu explodieren. Sie sah Bilder vor ihrem inneren Auge, Bilder die sich nicht kannte und für sie keinen Sinn ergaben.

Ein Mann und eine Frau, beide lächelnd und freundlich scheinend, blitzten vor ihren Augen auf. Wer waren sie? Sie sah ein kleines Mädchen, das im Matsch spielte und winkte. Zu wem?
Dann sah sie ein Haus, ein Dorf und andere Menschen, deren Gesichter sie nicht erkannte. Die Bilder waren so verwirrend, dass ihr Kopf immer schlimmer schmerzte. Also blickte sie zum Blutmond, der dieses Leiden jedoch um Längen verschlimmerte.
Gleichzeitig spürte sie, wie ihr Körper sich veränderte. Ihre Fingernägel wuchsen und wurden spitz, was unangenehm war, als sie die Hände zu Fäusten ballen wollte. Die Spitzen durchdrangen ihre zarte Haut, doch Cassandra fühlte kaum etwas. Dafür roch sie Blut. Ihr eigenes und von anderen Kreaturen der Nacht. Wie war das möglich, nachdem ihr Körper vor langer Zeit ausgetrocknet war? Sie besaß kein Blut mehr! All das kümmerte sie nicht, obwohl ihr Durst nach der weinroten Flüssigkeit lechzte.
Cassandra krümmte sich, die Schmerzen wurden zu viel. Voller Verzweiflung griff sie sich in die Haare, die nicht mehr schwarz waren, sondern sich der Farbe des Schnees anglichen. Sie spürte, wie die Fänge sich von selbst aktivierten und an ihre Lippen stießen.

Im orangefarbenen Licht des Blutmondes begann ihre Haut, sich zu verfärben. Jeder Herzschlag ließ ein Stück ihrer Haut gräulich wie Asche werden. Doch das hielt nicht lange an. Nach der ersten Welle zogen sich feine, silberne Fäden darüber und ließen sie im Licht glitzern. Diese breiteten sich bis zu ihren Haarspitzen, die während der letzten Minuten um ein ganzes Stück gewachsen waren, aus und ließen sie wie ein mystischer Gott wirken. So, wie sie im plötzlich aufwirbelnden Wind ihren Körper einnahmen, sah Cassandra keineswegs ungefährlich aus. Mit jedem Atemzug spürte sie Veränderungen innerhalb und außerhalb. Ihre Sicht verschwamm. Bis auf den Blutmond, zu dem sie sich hingezogen fühlte. All die Gedanken, die sie in der letzten Zeit gehegt hatte, waren wir weggeblasen. Cassandra spürte, wie der Wind an ihrer dünnen Kleidung zerrte.

Sie schloss die Augen und versuchte, nach dem Gefühl der Wut zu greifen. Was auch immer geschehen war, sie musste doch wütend sein, oder etwa nicht? Nicht einmal Angst über die Situation verspürte sie. So sehr sie es versuchte, danach zu greifen, desto mehr wurde ihr bewusst, dass gähnende Leere in ihr herrschte. Als hätte der Wind jegliche Emotionen von ihr mitgerissen. Ein Lachen kroch Cassandra's Kehle hinauf und verließ ihren Mund. Grausam lachte sie und sie spürte trotz geschlossener Augen, wie sie den beiden Männern damit einen Schauer einjagte. Sie breitete ihre Arme aus und empfing den orangefarbenen Schein des Mondes. Die Strahlen des Mondlichtes liebkosten ihre Haut. Endlich war sie wieder erwacht. Endlich war sie wieder in Freiheit. Über Jahrhunderte eingesperrt zu sein, wurden mit der Zeit langsam zu einer langen Qual, doch diese fand heute nun ihr Ende. Sie öffnete wieder ihre Augen und starrte auf die Schönheit des Mondes, der in dieser Nacht in ihrer liebsten Farbe strahlte.

"Willkommen zurück, Königin der Vampire", sagte Salvators Vater, der sich sofort verbeugte, als sie zu ihm sah.

"Wie ich sehe, hast du dich über die Jahrhunderte kaum verändert, Kirtash", antwortete Cassandra und sah zu Salvator, der sie anstarrte. Sie spürte seine Angst vor ihr und das war auch gut so.

"Bist das wirklich du, Cassandra?", fragte er ungläubig.

Mit einer leichtfüßigen Geschmeidigkeit, die sie seit langer Zeit vermisst hatte, bewegte sie sich fast schon schwebend auf ihn zu. Sie legte mit einem hinterhältigen Lächeln ihre Finger unter sein Kinn und schnalzte mit der Zunge.

„Was für ein hübsches Kerlchen du bist. Was für eine Schande, dass du Kirtash's Sohn bist", schnurrte sie im säuselnden Ton. Sie kam ihm näher und mit einem Blick von unten sah sie ihn verführerisch an, blieb aber wenige Millimeter vor seinen Lippen stehen.

„Ich muss dich enttäuschen. Deine Cassandra gibt es nicht mehr."

Sie spürte, wie Salvators Herz schneller schlug und einen kurzen Moment überlegte sie tatsächlich, ob sie ihn küssen sollte, doch sie entschied sich dann dagegen. Stattdessen bewegte sie ihren Kopf ein Stück wieder zurück, zog ihre Finger unter seinem Kinn zurück und streichelte ihm über die Wangen. Ein plötzlicher Schmerz durchzog sie und ein hässlichen Knacken von Knochen war zu hören, als sie ihren Blick von Salvator abwandte und hinter sich zu Kirtash sah.

"Du elender Bastard!", schrie sie außer sich vor Wut und ihre Kraft verließ sie langsam. Sie war einen kurzen Moment zu unvorsichtig geworden und hatte damit ihr Todesurteil unterschrieben. Kirtash grinste boshaft, in seinen Händen das Herz der Vampirkönigin. Das Knacken war das Geräusch gewesen, als er von hinten durch sie hindurch gegriffen hatte und damit einige Knochen gebrochen waren, als er ihr Herz herausgezogen hatte. Da sie kein Blut mehr in sich besaß, war er auch nicht voller Blut, doch stattdessen hielt er ein verrottetes Herz in der Hand, welches rot glühte. Hatte er es etwa die ganzen Jahrhunderte schon auf ihr Herz abgesehen gehabt? Warum wollte er es unbedingt haben? Durch den Verlust des Organs begann sich alles um die Vampirkönigin zu drehen. Mit einem Blick auf ihre Brust sah sie abgerissene Muskelstränge und Venen, an denen das Herz vor wenigen Sekunden noch befestigt gewesen war. Der kalte Wind fegte durch das Loch und ließ sie gruselig hin und her schwenken. Ihr Blick verschwamm noch mehr, bis ihre Beine sie nicht mehr trugen und sie zu Boden ging. In ihr begann ein Sturm zu toben, während sie Kirtash's Lachen hörte.

„Endlich! Endlich ist mir die Macht über die Nachtkreaturen gewiss!", lachte er böse. Seine Stimme klang wie ein Echo in ihren Ohren. Das war also das, worauf er aus war!

„Danke, mein Sohn. Deine Ablenkung hat mir endlich das Zepter für die Kreaturen der Nacht besorgt!"

Die Königin der Nacht sah noch einmal kurz zu Salvator, der sie geschockt und mit aufgerissenen Augen ansah, bevor sich das restliche Leben aus ihr verabschiedete und sie in die tiefen der Finsternis zurück fiel.

Bloodmoon- a Halloween shortstoryDonde viven las historias. Descúbrelo ahora