Kleine Dame im Spiegel

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Die Augen eines Kindes. In ihnen kann man die Zukunft sehen. Sie sind wach und offen, neues zu lernen, Eindrücke zu sammeln, die sie bis tief in ihr Herz und ihre Seele aufnehmen. Sie tragen einen Funken, entflammbar für so vieles und dabei doch komplett schutzlos. Wenn diese Feuer entfacht werden, strahlen sie heller als tausend Sterne.
Doch wenn ich meine Augen öffne und zulasse, dass mich das dämmrige Licht der roten Morgensonne blendet, sehe ich nicht das pure Leben.
Ich sehe die dunklen Augen meiner kleinen Schwester. Gerade erst erwacht und doch so trüb, dass es mir ohne jegliches zögern einen tiefen Schmerz versetzt. Verschlafen blinzelt sie mich wie jeden Morgen an. Allerdings ist dies kein gewöhnlicher Morgen. Hier in Japan ist heute ein Feiertag, an dem die Menschen an den Schreinen dafür danken, dass ihre Kinder gesund ein bestimmtes Alter erreicht haben.
Und dieses Jahr ist auch Kira mit ihren sieben Jahren unter den Kindern, die an der Zeremonie teilnehmen.
Kira, die mir noch halb schlafend entgegenblinzelt und gleich darauf wieder ihre Augen schließt. „Steht auf, ihr beiden", erklingt die sanfte aber bestimmte Stimme unserer Mutter hinter mir und ich merke, wie sie sich uns zügigen Schrittes nähert. Langsam wacher werdend richte ich mich auf, während meine Mutter weiter daran arbeitet, uns aus den Federn zu kriegen: „Kira, beeil dich, wir müssen dich noch fertigmachen."
Ich merke, wie sich meine brummelnde Schwester an meinem Bein festklammert und ihr Gesicht in meinem Oberschenkel vergräbt. Als meine Mutter über meine Beine hinwegsteigt und Kira an der Schulter schüttelt, bin auch ich mittlerweile wach. Doch mit jedem Rütteln meiner Mutter, verfestigt sich Kiras Griff in mein Bein. „Ich mach das schon, Mama. Geh du ruhig schon mal nach unten", versuche ich die Lage ein wenig zu entspannen. Und tatsächlich funktioniert es. Erleichtert nickt mir meine Mutter mit einem Seufzer zu und lässt von ihrer kleinen Tochter ab, die wiederum auch ihren Griff ein wenig entspannt.
Nur mit einem verständnisvollen Lächeln und ohne ein weiteres Wort zu sagen, eilt unsere Mutter aus dem Zimmer.
Für gewöhnlich ist sie eine sehr ruhige Frau, sanft und rücksichtsvoll. Doch ich würde unseren Vater nicht als einen der geduldigsten und mit Sicherheit nicht als einen gnädigen Menschen bezeichnen.
„Weißt du noch, was heute für ein Tag ist", versuche ich mit einem spielerischen Ton meine Kleine zum Aufstehen zu bewegen. Doch sie funkelt nur böse nach oben.
Ja, das Leben in ihren Augen ist trüb und dennoch ist ihr Blick so stechend, dass er töten könnte. Doch als Antwort auf ihren Blick erhält sie von mir nur ein strahlendes Lächeln. Woraufhin eine Schicht von Tränen der Unschuld ihre Augen verglasen. Für sie unmerklich schlucke ich. Manchmal hat sie diese Tage, an denen sie einfach so anfängt zu weinen. Jeder hat diese Tage, und doch hat plagt jeden Menschen ein individuelles Leid. Sie ist sich nicht einmal bewusst, dass sie leidet. Dass sie immer gelitten hat und dass ihr empfinden für das Leid anderer immer stumpfer wird, desto mehr ihr Eigenes schwindet.
Meine düsteren Gedanken überspielend, wische ich ihr mit einem freundlichen Lächeln die Tränen aus dem Gesicht und hebe sie auf die Füße, sodass sie mir direkt in die Augen sehen kann. Wie gern hätte ich ihr noch die liebsten Worte gesagt, um sie zu trösten. Doch für diesen Moment nehme ich sie bloß an die Hand und gehe mit ihr zum Frühstück hinunter.
Unten angekommen grüße ich meine Mutter mit einem herzlichen Lächeln, das sie erwidert, als sie uns zur Tür reinkommen sieht. Sie wirkt ein wenig abgehetzt und huscht ständig von der Küche zum Esszimmer und zurück.
Vater sitzt mit demselben steinernen Gesichtsausdruck am Tisch wie jeden Morgen. Ermutigend lächle ich Kira ein letztes Mal zu, bevor ich ihre Hand loslasse, wir unseren Vater begrüßen und uns zu ihm an den Tisch setzen. Er muss gute Laune haben, denn er nickt uns ein wenig zu und das mit einem leichten Lächeln. Doch seine Augen gewinnen schnell ihre Kälte zurück, als er seine Tochter erblickt. „Freust du dich denn nicht auf heute?" Der Ton, in der er seine Frage an sie stellt lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
„Doch", antwortet meine Schwester zuerst kleinlaut, erhebt dann aber ihre Stimme, als ihr kindlicher Blick auf die Strenge des Vaters stößt, „ich freue mich sehr."
Dabei ändert sich ihre gesamte Gestalt. Ihre Haltung ist aufrechter, ihr Blick schärfer und ihre Lippen flach aufeinandergepresst. Und aus Erfahrung weiß ich, dass sie das tut, was sie immer tut. In der Schule nennen die Lehrer sie, die kleine Schauspielerin. Begabt damit, jede Rolle perfekt anzunehmen, die man ihr erklärt. Oh wie könnten sie auch nur ahnen, dass es keine Begabung, sondern ein Instinkt ist. Ich kann ganz genau sagen, dass sie nun nichts mehr sagen wird, was unser Vater von ihr nicht hören will. Er hat eine Vorstellung von Moral, die andere Menschen als verdreht sehen würden, auch wenn er sie vor der Welt außerhalb unserer Familie perfekt verbergen kann. Ich teilte schon früh die Ansichten meiner Mutter, weshalb sein Interesse an mir immer recht gering war. Aber bei Kira war recht schnell klar, dass sie emotional und persönlichkeitstechnisch unserem Vater recht ähnlich ist, weshalb er von ihr erwartet, auch seine Ansichten zu teilen. Das brachte ihn dazu, sie fast militärisch zu erziehen. Eine Aufforderung von Vater ist für meine Schwester wie ein Befehl. In seiner Anwesenheit ist es für sie so gut wie unmöglich, noch ein Kind zu sein.
Deshalb bin ich auch mehr als froh, als Mama uns nach dem Essen zurück auf unser Zimmer schickt, um uns fertigzumachen. Kira ist noch ganz eingeschüchtert vom Essen und spricht kein Wort. Also rede ich ein wenig über heute, über alles, worauf sie sich freuen könnte und ich erzähle ihr von dem Tag, als ich an ihrer Stelle stand. Das ist jetzt fast ein ganzes Jahrzehnt her, aber mittlerweile bin ich auch doppelt so alt wie sie. Und wie ich so von Nichtigkeiten erzähle, meine ich zu sehen, wie sich der Blick meiner Schwester ein klein wenig lockert und sich ein kleines Lächeln über ihr rundes Gesicht legt.
„Onīsan?" Ihrer Stimme fehlt jegliches Gefühl, als sie mit mir spricht und das ist es, was innerlich an mir zerrt. „Ja", überspiele ich meine Sorge mit einem Lächeln.
„Auf wessen Seite würdest du stehen?" Frag das nicht, Kleines. „Auf Mamas oder Vaters?"
Auf Mamas, ohne jeden Zweifel! „Wie kommst du darauf", frage ich wieder im selben Ton wie eben. Doch ich kann nicht anders, als mich beim Bürsten ihrer Haare in meinen Gedanken zu verlieren. Unsere Mutter liebt uns beide sehr und auch meiner Schwester ist das bewusst. Sie kennt meine Antwort auf diese Frage und weiß, dass ich sie ihr nicht geben darf.
Es ist ihre vorwurfsvolle Stimme, die mich aus meinen Gedanken reißt: „Shinzō, du hörst mir nicht zu."
Und wieder werfe ich ihr ein strahlendes Lächeln zu: „Entschuldige, Kira." Sie muss sich keine Sorgen drüber machen, dass sie zu vorlaut mit mir redet. Denn sie weiß, dass ich sie bedingungslos liebe, auch ohne dass sie sich verstellen oder schauspielern muss. Ich will nicht, dass ich eine weitere Person in ihrem Leben sein muss, für die sie perfekt sein muss. Und doch: „Denkst du, man sollte etwas tun, nur weil man es kann?"
Überrascht lasse ich meinen Blick sinken. Wie könnte ich ihr das sagen?
„Auch wenn man damit anderen wehtut?"
Nein sollte man nicht. Meiner Meinung nach.
„Nur weil man weiß, dass es einem nicht leidtun wird?" Denn jedes Handeln hat seine Konsequenzen. Mein Blick wandert vom Boden zum Spiegel und fokussiert die Augen meiner kleinen Schwester, die mir stechend entgegensehen. Schwarz, wie die Misere des leichten Zweifels an dem, was unser Vater ihr immer wieder durch seine eigenen Taten beibringt. Aber was soll ich tun. Es ist ihr Leben und es liegt in der Verantwortung unserer Eltern, sie zu erziehen. Ihr zu zeigen, was richtig ist und was falsch. Alles, was ich tun kann, ist zu versuchen, sie zu beschützen, ihr keine Dinge einzureden, die Vater für falsch hält. Und doch hole mit zitterndem Atem dazu aus, ihr zu antworten, als unsere Mutter das Zimmer betritt. Gehetzt redet sie auf uns ein und nimmt mir die Haarbürste aus der Hand. Es dauert eine Weile, bis sie Kira fertig angezogen und zurechtgemacht hat. Das Fest, an dem die Mädchen ganz so traditionell zurechtgemacht werden wie Erwachsene. Unter der Schminke und dem Kimono bleibt es immer noch dieselbe Person. Meine kleine Schwester, die ihren kalten Blick durch den Spiegel nie von meinen Augen abgewendet hat. „Sieh nur", Mama richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Spiegel. Was sie nicht sehen kann, ist wie Kiras schwarze Augen sich neu fokussieren und ihr eigenes Gesicht in Augenschein nehmen. Wie jeder Zweifel und jede Unschuld in dem Moment aus ihren Augen schwinden, in dem sie sich selbst erblickt. Und was Kira nicht sehen kann, ist, wie ich niedergeschlagen meine Augen schließe, als mir klar wird, dass es egal gewesen wäre, ob ich es noch geschafft hätte, ihr meine Meinung zu sagen. Denn innerlich hat sie schon längst akzeptiert, wer sie sein soll.
„Du siehst aus," erregt die glockenhelle Stimme meiner Mutter wieder meine Aufmerksamkeit, „wie eine kleine Dame."

Kleine Dame im SpiegelWhere stories live. Discover now