Es wird immer genug sein

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Ich hoffe, dass ihr alle einen schönen zweiten Advent hattet. :)

Es wird immer genug sein
Harry war müde. Nicht nur müde, sondern erschöpft und auch ausgelaugt – regelrecht am Ende. Sein letzter Einsatz war erst wenige Stunden her und hatte mehrere Tage gedauert. An Schlaf war kaum zu denken gewesen, obwohl er bitter nötig war. Und nun zeigte sein Körper ihm, was es mit sich brachte, nicht zu schlafen und dauerhaft angespannt und wachsam zu sein. Seine Gedanken rasten schneller als es Harry lieb war und immer wieder schielte er zur offen stehenden Tür des Schlafzimmers, um zu spüren, wie die Sicherheit bei dem Anblick über ihn kroch.

Er konnte fliehen, wenn es nötig sein würde. Der Notausgang war in greifbarer Nähe und die kleine Stimme in Harrys Kopf, die stets die Wahrheit sprach, musste sich erst einen Weg an die Oberfläche kämpfen, um Harry klarzumachen, dass ein Fluchtweg nicht von Nöten war.
Denn Harry war sicher. Er war Zuhause.

„Hör auf nachzudenken", sagte Draco leise und Harry hob den schweren Kopf von Dracos nackter Brust, um sein Gesicht anschließend in der Halsbeuge seines Mannes zu vergraben. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Harry Dracos Herzschlag vermisste, dem er eben noch hatte lauschen können, doch umso beruhigender war die Wärme und der allzu vertraute Duft, der von Draco ausging.

„Willst du lieber auch noch den Rest der Phiole nehmen?", fragte Draco ruhig und strich sanft durch Harrys dunkle Haare. Auf dem Nachtschrank stand noch die kleine Phiole mit dem purpurfarbenen Trank.

Einen Moment lang überlegte Harry, aber er hatte mit der Hälfte des Tranks für den traumlosen Schlaf mehr zu sich genommen, als er eigentlich wollte, und er schüttelte den Kopf. Er wusste von den verschiedensten Heilern, dass dieser Trank hochgradig abhängig machen konnte und er fühlte sich sicherer, indem er vorerst nur die Hälfte zu sich nahm. Harry wusste, dass er mit dieser Ration nicht die ganze Nacht traumlos durchschlafen würde, aber notfalls konnte er den Rest noch trinken, wenn es wirklich sein musste. Auch die Vorstellung, wie gerädert er sich schon mit einer halben Dosierung morgen früh fühlen würde, sorgte dafür, dass er es zunächst nur mit der Hälfte des Tranks probieren wollte.

„Erzähl mir irgendetwas", bat Harry ihn mit rauer Stimme und seine Lippen berührten bei diesen wenigen Worten Dracos warme Haut. Es herrschte einen Augenblick lang Stille und Harry verteilte müde, unbeholfene und viel zu feuchte Küsse an Dracos Hals. Er genoss es, wie Draco mit den langen Fingern durch seine Haare strich und gab einen zufriedenen, aber recht undefinierbaren Laut von sich.

Seit etwas mehr als einer halben Stunde versuchte Draco ihn durch die trägen und sanften Berührungen zum Einschlafen zu bringen und es war keine große Hilfe, dass die ganze Zeit über das Licht auf ihrem Nachtschrank brannte, aber im Dunkeln wurde Harry nur noch unruhiger. Und für Harry war es in Ordnung, auch noch eine weitere halbe Stunde auf den Schlaf zu warten. Alles war ihm lieber, als den Rest der Phiole auszutrinken, die bedrohlich auf ihrem Nachtschrank stand.

„Teddy hat in dem Theaterstück für das Kinderfest am Ende einen der Bäume gespielt", sagte Draco und Harry zog träge die Stirn kraus.

„Ich dachte, er sollte den Bauern spielen", murmelte Harry müde und erinnerte sich daran, wie Teddy ihnen vor einiger Zeit noch erzählt hatte, dass er in dem Stück die Hauptrolle als Bauer spielen durfte. Schon damals, als das Datum der Aufführung bekanntgegeben wurde, hatte Harry gewusst, dass er nicht dabei sein würde, aber er hatte sich trotzdem für den Kleinen gefreut.

„Er konnte sich den Text nicht merken. Geschweige denn die Namen der anderen. Und als Baum hatte er nur ein paar Worte", sagte Draco und Harry wollte verstehend nickend, aber sein Kopf war viel zu schwer und er zu müde.

„Molly hat ihm zum Trost eine riesige Torte gebacken. Mit Schokolade und diesen bunten süßen Zuckerperlen. Und die Lebkuchenmännchen, die die Farbe ihres Zuckergusses ändern können, haben sie auch schon gebacken, obwohl es noch drei Wochen bis Weihnachten ist."

Der Klang von Dracos Stimme war beruhigend und obwohl Harry Draco widersprechen und ihm sagen wollte, dass es nie zu früh für Lebkuchenmänner war, bewegten sich seine müden Lippen keinen Millimeter.

„Und Arthur hat Teddy drei Toaster zu Nikolaus geschenkt. Drei. Toaster."

Draco seufzte theatralisch. „Jeder Toaster in einer anderen Farbe und die Brotscheiben können mit verschiedenen Mustern getoastet werden. Vielleicht sollten wir Arthur die Dinger an Weihnachten zurückschenken. Teddy isst nicht mal Toast. Er hasst diese labbrigen Scheiben", stellte Draco mit einem amüsierten Schnauben fest und strich gedankenverloren über Harrys nackten und verspannten Rücken.

„Ron hat den Scherzartikelladen mit George übrigens um eine zusätzliche Etage erweitert. Die beiden haben in dieser Vorweihnachtszeit so viel Umsatz gemacht wie noch nie. Aber ich glaube nicht, dass es ..."

Harry wurde noch müder als zuvor. Was Draco erzählte, interessierte ihn von Sekunde zu Sekunde immer weniger, aber es half ihm einzuschlafen und Ruhe zu finden. Er spürte, wie sich sein Puls beruhigte und seine Gedanken nicht mehr rasten, sondern allmählich zu einem Halt kamen. Und irgendwann war da nur noch Stille und Schwärze. Vollkommene Ruhe. Dracos Stimme verschwamm immer mehr zu einem Hintergrundgeräusch und irgendwann zu einem gleichmäßigen Ton, der Harry einschlafen ließ.

Und da waren keine Träume. Keine Erinnerungen. Nur Ruhe, Wärme und Dracos vertrauter Duft.

Gefühlt wachte Harry nur fünf Sekunden später wieder auf, aber offensichtlich mussten mehrere Stunden vergangen sein. Das Licht auf dem Nachtschrank brannte nicht mehr, er hatte sich auf die Hälfte seines Bettes verzogen und Draco auf die seine, nachdem sie vorhin nah beieinander eingeschlafen waren. Vor allem aber pochten Harrys Schläfen nicht mehr so extrem wie vorhin und das konnte nur bedeuten, dass mindestens vier oder fünf Stunden vergangen sein mussten.

Müde blinzelte Harry an die dunkle Decke ihres Schlafzimmers und sah zu Draco rüber, der sich unter seiner Bettdecke zusammengerollt hatte.

„Harry?"

Da war sie wieder. Die zerbrechliche und leise Stimme, die Harry vor wenigen Sekunden geweckt hatte. Und Harry war augenblicklich klar, dass diese Stimme nicht von Draco ausging, der noch immer schlafend neben ihm lag.

„Alles okay?", fragte Harry mit kratziger Stimme und räusperte sich, als er zur Schlafzimmertür sah, wo Teddy unbeholfen im Pyjama dastand. Er hielt seinen Stoffhasen fest umklammert und seine kleine Statur warf durch das helle Flurlicht einen hohen Schatten in ihr Schlafzimmer.

„Ich hatte einen Alptraum", antwortete Teddy leise und blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen, bis Harry seinen Arm über die Bettkante baumeln ließ.

„Komm her", sagte Harry müde und Teddy ließ sich nicht zwei Mal bitten, lief schnurstracks und mit Anlauf auf das große Bett zu und stahl sich in die Lücke zwischen Draco und Harry.

Draco stöhnte müde auf und fuhr sich verschlafen über sein Gesicht. Harry war ebenfalls noch nicht ganz wach, aber Teddy hingegen schien schon eine ganze Weile nicht mehr zu schlafen. Er war hellwach, aber klammerte sich beinahe verzweifelt an seinen Hasen Bruno und Harry zog den Kleinen zu sich.

„Was ist los?", fragte Draco schlaftrunken und schaltete das Licht auf dem Nachtschrank an. Harry blinzelte der Helligkeit entgegen und Teddy beschwerte sich lautstark, dass es auf einmal so hell wurde.

„Ich will nicht blind werden", dramatisierte Teddy den Moment und Draco hob beschwichtigend die Hände, schaltete das Licht wieder aus und ließ sich zurück in die Kissen fallen.

„Okay. Okay", sagte er müde und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, bevor er sich zu Harry und Teddy drehte.

„Wieder schlecht geträumt?", fragte Draco und obwohl nur das hereinscheinende Flurlicht das Schlafzimmer ein wenig erhellte, sah Harry, dass Teddys Haarfarbe sich änderte und der blonde Farbton fast dem von Draco glich.

„Mh."

Teddy sagte nichts, malträtierte den Stoffhasen in seinen kleinen Händen und schien sich nicht sicher zu sein, ob er bei Harry oder Draco liegen wollte und Harry nahm ihm die Entscheidung ab, indem er Teddy zu Draco rüberschob und dann aufrutschte. Harry legte seinen Arm um Teddy und Draco und spürte, wie er wieder ruhiger wurde und sich wohl mit den beiden fühlte. Sie waren seine Familie. Sein Zufluchtsort. Sein sicherer Hafen.

„Versuch wieder einzuschlafen, ja?", murmelte Draco müde und verteilte Küsse auf Teddys blondem Haarschopf.

„Könnt ihr mir etwas von Mum und Dad erzählen?", fragte Teddy leise und Harry spürte, wie die Müdigkeit aus seinen Gliedern verschwand und auch Draco sich regte. Einen Moment lang blieb es still zwischen ihnen und Draco machte das Licht nun doch wieder an, um Teddy anzusehen und ihm eine blonde Locke aus der Stirn zu streichen. Er hatte sich auf seinen Ellenbogen gestützt und Harry sah nachdenklich zu ihm auf.

Es fühlte sich an, als wäre Harry ein ganzes Jahr lang nicht hier gewesen. Hatte Teddy tatsächlich wieder öfter Alpträume? Wurde es jetzt zur Normalität, dass der Kleine mitten in der Nacht etwas über seine Eltern wissen wollte?

Harry atmete tief durch und warf einen Blick auf den Stoffhasen, der allmählich ziemlich mitgenommen aussah. Teddy hatte ihn seit seiner Geburt und nach sechs Jahren wurde er zwar nur noch nachts als emotionaler Beistand gebraucht, aber ein Ohr war fast ab und das eine Auge hatte Molly durch einen Knopf ersetzen müssen.

„Was willst du denn wissen?", fragte Harry und wusste, dass er eigentlich Schlaf brauchte, aber Teddy ging in diesem Moment eindeutig vor. Draco sah aufmerksam zwischen ihnen hin und her, bis sein Blick schließlich nachdenklich auf Teddy ruhte.

„Wie waren sie? Waren sie gut?", fragte Teddy zögernd.

„Ja, waren sie. Dein Dad war der beste Lehrer überhaupt. Und jeder hat den Unterricht bei ihm gemocht. Er war immer für andere da, wenn er gebraucht wurde. Und Tonks ... deine Mum war ein Auror, so wie ich", sagte Harry und Teddy biss sich grübelnd auf die Unterlippe.

„Und war sie auch so knallhart wie du? Hat sie anderen auch mal in den Hintern getreten?"

„Harry!"

Draco sah ihn warnend an, denn dieses Wort hatte Teddy gewiss nicht von ihm und Harry zuckte lediglich unschuldig mit den Schultern, als Teddy konzentriert seinen Stoffhasen bearbeitete und an dem Knopfauge herumspielte.

„Ja, sie war wirklich knallhart. Es gab keinen Bösewicht auf der Welt, der keine Angst vor ihr hatte", versicherte Harry ihm überschwänglich und Teddy schien zufrieden. Nachdenklich pfriemelte er an dem spröden Ohr seines Stoffhasen, als er zunächst Harry ansah und dann Draco.

„Habt ihr sie geliebt?", fragte Teddy und während Draco lediglich stumm nickte, um nichts Falsches zu sagen, bejahte Harry die Frage des Kleinen.

„Natürlich", sagte er und lächelte schmal, als Teddy die Stirn grübelnd krauszog.

„Und liebt ihr mich?"

„Mehr als alles andere", sagte Draco augenblicklich und beugte sich ein klein wenig hinab, um Teddy einen Kuss auf die Stirn zu drücken.

„Und deshalb durfte ich bei euch wohnen, nachdem Oma damals in den Himmel gegangen ist zu Mum und Dad?"

Bevor Harry und Draco die Chance hatten Luft zu holen und zu antworten, stellte Teddy gleich die nächste Frage.

„Was ist... Was ist, wenn ihr mich irgendwann nicht mehr liebt? Gebt ihr mich dann weg?", fragte Teddy leise und Harry schluckte schwer, als er sah, wie Teddys Unterlippe gefährlich zu zittern begann.

Draco setzte sich nun aufrecht an das Kopfende ihres Bettes, zog Teddy ebenfalls hoch und setzte ihn sich auf den Schoß.

„Pass mal auf, Knirps. Wir würden nie einfach aufhören dich zu lieben. Und schon gar nicht würden wir dich einfach so weggeben oder rausschmeißen, okay?", meinte Draco sanft und Teddy zog geräuschvoll die Nase hoch, als er den Tränen plötzlich nah war.

„Aber so war es in meinem Traum. Da habt ihr mich rausgeschmissen und weggegeben und dann musste ich auf der Straße leben", klagte Teddy.

Draco sah besorgt aus. Er strich Teddy durch die hellen blonden Haare, wie er es Stunden zuvor bei Harry getan hatte, und der Kleine ließ sich müde und mit wässrigem Blick gegen Draco sinken. Harry griff blindlings nach seiner Brille auf dem Nachtschrank und richtete sich erst auf, als er besser sehen konnte.

„Es war ein Traum. Nicht echt, Teddy. Wir werden immer da sein und dich immer bei uns haben wollen – nicht weggeben. Wir werden immer auf dich aufpassen", versicherte Harry dem Kleinen und Teddy schüttelte den Kopf.

„Aber das kannst du nicht wissen", sagte er und wischte seine feuchte Nase an dem Stoffhasen Bruno ab. „Das kannst du doch gar nicht wissen, wenn du nicht mehr da bist."

„Warum sollte ich nicht mehr hier sein?", fragte Harry irritiert und sah nachdenklich zu Draco, der beruhigend über Teddys bebende Schultern strich.

„Na weil du ein Auror bist", sagte Teddy mit einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, als wäre somit alles offensichtlich. „Genau wie meine Mum und sie ist jetzt im Himmel."

Draco sah Harry nachdenklich an und Harry kam es so vor, als hätten die beiden sich zusammen gegen ihn verschworen.

„Teddy, ich bin vorsichtig. Jeden Tag passe ich auf mich auf, wenn ich im Einsatz bin und ich weiß, dass manchmal Sachen passieren können, aber ich gebe immer mein Bestes, um wieder bei Draco und dir zu sein", versicherte Harry dem Jungen, dessen Haarfarbe nun von blond zu hellblau wechselte. Er schniefte und drückte sich noch näher an Draco, obwohl Harry in diesem Augenblick alles geben würde, um Teddy selbst in den Armen halten zu können. Er wollte Teddy klarmachen, dass er immer da sein würde. Sein Alptraum würde nie die Realität werden.

„Und was ist, wenn es nicht genug ist?", fragte Teddy leise und Harry schluckte schwer.

Er kannte diese Sorgen bereits. Diese Gespräche hatte er mehr als einmal mit Draco geführt, wenn er zu einem seiner Einsätze aufbrach, verletzt zurückkam und im St. Mungos landete.

„Ich werde immer mein Bestes geben und vorsichtig sein. Und es wird immer genug sein, Teddy", sagte Harry und schob kurz die Brille von seiner Nase, um sich mit der Hand übers Gesicht zu fahren. Allmählich holte ihn die Müdigkeit wieder ein, aber Teddys besorgter Blick ließ ihm noch keine Ruhe.

„Sicher? Versprichst du es?", fragte Teddy und Harry nickte schwach.

Teddy war sechs und ein Versprechen Gold wert. Man brach es nicht und Harry hatte nicht vor, Draco oder den Kleinen jemals zu enttäuschen. Vor ein paar Jahren noch hatte Harry sich mehr als einmal kopflos in Abenteuer gestürzt, ohne die Risiken vorher abzuschätzen, aber seitdem er mit Draco zusammenlebte hatte er sich verändert. Teddy hatte Harry schließlich den letzten Ruck gegeben, sich von Gefahren so fern wie möglich zu halten und deswegen war Harry sich fast einhundertprozentig sicher, sein Versprechen einhalten zu können.

auch von Weihnachten - 4 Advents-OSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt