∎ 𝐏𝐫𝐨𝐥𝐨𝐠

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Der Kies knirschte ohrenbetäubend laut unter den Sohlen meiner Schuhe. Jetzt schon zog er seinen Kopf ein paar Zentimeter weiter in den hochgeklappten Kragen seines Mantels zurück, um sich vor der winterlichen Kälte zu schützen. Auch veränderten sich die Geräusche, die seine neuen, steifen Lackschuhe auf den Steinen verursachten. Bei jedem Schritt hörte ich, wie er noch mehr in Eile geriet.

Warum er so in Eile war, verheimlichte er mir. Ich wusste nur, ihm widerstandslos und möglichst unbemerkt zu folgen, wäre die beste Entscheidung und so dämpfte ich möglichst die Geräusche meiner Schritte, was sich als nahezu unmöglich auf dem steinigen Untergrund herausstellte. Diese Eile verdankten wir seiner Idee, essen gehen zu wollen. Warum er in das teuerste Restaurant der Stadt gehen wollte, blieb mir ebenfalls ein Rätsel.

"Deine Laufschuhe kannst du heute stehenlassen, Schatz", hallte seine Stimme immer noch in meinem Kopf wieder, wie die eines führsorglichen Ehemanns, der genau wusste, wie schnell ich zu meinen Laufschuhen griff. Damit hatte er mich vor der Blamage bewahrt, mit Laufschuhen in einem Sternerestaurant aufzutauchen. So bereiteten mir jetzt jedoch die hohen Absätze der teuren Schuhe Schwierigkeiten, ihm mit seinen ebenen Schuhen schrittzuhalten.

Meine Entscheidung für Absätze lag bereits mehrere Stunden zurück, sodass ich mich jetzt an seiner Hand durch einen nur schattenhaft beleuchteten Park führen ließ. Es war weit nach Mitternacht, als wir das Restaurant verlassen hatten. Zuvor hatte er sich gut mit Alkohol volllaufen lassen, was seine sonst so schüchterne Zunge zu lockeren Sprüchen getrieben hatte, die er ohne Alkohol im Blut niemals geäußert hätte:

"Kein Wunder, dass du in deine Jeans nicht mehr reinpasst, wenn du so viel in dich hineinstopfst!", war einer dieser Sprüche, die ich mir heute mehrfach hatte anhören dürfen, aber ich wusste ja, wie sehr er es morgen bereuen würde. Mit einem matten Lächeln auf den von Lippenstift roten Lippen hatte ich ihn reden lassen, meine Ohren auf Durchzug geschaltet. Die Erinnerung an seine Sprüche verblasste bereits, wie Tafelkreide im Wind.

Die unangenehm kalte Luft brannte etwas in meinen Lungen, wie ich hinter ihm her stolperte, immer schneller werdend, da er fordernder, ja fast ängstlich, an meinem Arm zog, ich leicht außer Atem war und versuchte dies zu verbergen. Nein, ich fühlte mich nicht im Geringsten dick oder gar unsportlich, was mir mein Arzt auch letztens erst wieder bestätigt hatte:

"Wenn Sie noch weiter abnehmen, rutschen sie in die Untergewichtigkeit. Noch ist das nicht weiter bedenklich, vor allem, weil sie sportlich sehr fit sind, aber dennoch würde ich Ihnen zur Vorsicht raten."

Kleine Wolken bildeten sich jedes Mal vor meinem Mund, wenn ich ausatmete, gefolgt von einem leisen Schnaufen nach Luft. Der Versuch all dies zu unterdrücken und meine Atmung zu normalisieren, machte mir den Weg durch den Park nur noch schwerer. So leise und schnell wie möglich, setzte ich einen Fuß vor den anderen, den Blick starr auf den unebenen Boden gerichtet, um bloß nicht umzuknicken. Die losen Steine unter meinen Absätzen machten mir zu schaffen und knirschten bei jedem Schritt unangenehm in meinen Ohren.

Dieses Geräusch von Stein auf Stein war fast noch schlimmer, als Kreide auf Tafel oder Fingernagel auf Papier. Jedes Mal lief mir ein eiskalter Schauer gefolgt von einer Gänsehaut den Rücken hinunter. Am liebsten wäre ich stehengeblieben, hätte meine Schritte auf das Gras neben dem Weg gelenkt und einfach nach Luft gekeucht, doch seine Hand, die meine fest im Griff hielt, angetrieben von der Eile, hielt mich davon ab.

"Was bist du heute so langsam?", hörte ich seine dunkle Stimme in der tiefschwarzen Nacht fragen. Ich reagierte nicht, versuchte nur ihm schrittzuhalten und krampfhaft meinen Atem zu verlangsamen. Er musste wirklich Panik haben, wenn ihm unser Tempo nicht genügte. Dennoch war seine Stimme warm und weich, als sorge er sich darum, ich käme nicht hinterher.

Es dauerte keine fünf Minuten Galopp durch den Park und ich spürte, wie ich mir Druckstellen in den ungewohnt unbequemen Schuhen lief. Absätze entsprachen beim besten Willen nicht meiner Alltagsschuhwahl. Es hatte einen Grund, dass er mir extra gesagt hatte, nicht meine Laufschuhe anzuziehen. Nämlich den, dass ich kaum andere Schuhe trug. Mein erster Griff zu Schuhen, egal zu welchem Anlass, war immer der zu meinen Laufschuhen. Diese waren nicht nur himmlisch bequem, sondern sie dämpften auch noch die Geräusche, die Stein auf Stein beim Laufen verursachten.

Nicht einmal ein Untergrundwechsel veranlasste mich dazu, mich mit meinen jetzigen Schuhen anzufreunden. Der Asphalt des Großstadtjungels war nicht so viel besser. Die hohen Absätze klackerten bei jeder Berührung mit dem grauen, flachen Boden. Sein Griff um meine Hand verstärkte sich noch etwas, quetschte fast meine Finger ein, als wolle er mir weh tun. Dabei wollte er nur möglichst schnell nach Hause, da ihm die Kälte zu schaffen machte. Seine Haut reagierte mit roten Flecken bis hin zu heftigen Pusteln auf Temperaturunterschiede wie dem vom beheizten Sternerestaurant in die winterlich kalte Luft. Dass er sich kein Taxi geleistet hatte, wunderte mich immer noch. Sonst tat er dies selbst für die aller kürzesten Wege durch bereits schon mildere Temperaturen als heute. Doch nun für die Viertelstunde Spaziergang zum Restaurant und zurück hatte er es nicht für nötig gehalten, ein Taxi zu bezahlen. Wobei, bezahlen wäre wohl die geringste Sorge.

Kurz vor der Straße zu unserem Haus bog er in eine andere Gasse ab. Ich stolperte unelegant hinterher, geriet durch die unvorhergesehene Richtungsänderung und die Geschwindigkeit ins Straucheln, bis ich schließlich mein Gleichgewicht verlor und hinter ihm zu Boden ging. Aus Reflex stieß ich einen unerwartet lauten Fluch hervor, als meine dünne Strumpfhose unter meinem kurzen Kleid riss und meine Haut dem rauen Boden nachgab.

"Sei still!", entfuhr es ihm, erschrocken vor meinem lauten Schrei, der die Stille der schlafenden Stadt zerriss. Sofort zog er mich wieder hoch und betrachtete kurz meine aufgeschlagenen Knie im Dämmerlicht der nächsten Laterne, fürsorglich wie er war. Zufrieden, dass es nicht ganz so schlimm schien, nickte er. "Weiter", forderte er sanft mit einem leichten Zug an meiner Hand. Was hatte er nur? Wieso war er so in Eile und zuckte bei jedem Schatten zusammen? Außerdem, wo wollte er hin? Nach Hause schien es ja schon einmal nicht zu sein.

Auf jetzt noch wackligeren Beinen folgte ich ihm. Die Frage, wo er hinwollte, brannte mir schon auf der Zunge. Ich war gerade im Begriff diese auszusprechen, da hielt er abrupt an der nächsten Hausecke inne. Sich und mich hinter ihr im Schatten der Wand versteckend, lugte er um die Wand drum herum, als vermutete er jemanden dort stehen zu sehen. Seine andere Hand tastete, ohne dass er sich zu mir umwand, nach meinem Oberkörper und drückte mich hektisch an die Hauswand. Scharf die Luft einatmend prallte ich dagegen, spürte den kalten Stein in meinem Rücken, wie sich die Kälte auch noch den Stellen meines Körpers bemächtigte, die nicht schon längst vor Kälte zitterten. Ich nahm es kaum wahr, so angespannt wartete ich auf was auch immer gleich passieren würde.

"Bleib hier", flüsterte er nur so leise, dass ich es kaum verstand. Dann lösten sich seine Hände von meinem Körper und ich hörte, wie sich seine Schritte von mir entfernten. Er trat aus dem Schatten der Ecke hervor, ging um das Haus herum, zögerte anscheinend kurz, um dann zielsicher die Straße zu überqueren. Nur noch aus den Augenwinkeln sah ich seinen schwarzen Mantel hinter ihm her wehen, wie er mit dem Dunkel der Nacht verschmolz, noch bevor er die andere Straßenseite erreicht hatte. Auch seine Schritte verloren sich, wie ich vermutete, in der nächsten Gasse.

Die Stille, die mich plötzlich umgab, brachte meine lärmgewohnten Ohren fast zum Explodieren. Verrückter Weise hielt ich mir aus Reflex die Ohren zu. Ich spürte meine eiskalten Finger, wie sie sich zusammen mit etlichen Haaren auf meine Ohren pressten und konnte meinen rasenden Puls in meinen Fingerspitzen hören. Das Wummern war so unerträglich laut, unmöglich gleichmäßig, unglaublich schnell. Dank der stilllärmenden Geräuschkulisse um mich herum, nahm ich außer der Kälte nichts mehr wahr.

So hörte ich die Schritte des Schattens erst, als er unmittelbar auf der anderen Seite der Hausecke angekommen war. Angst traf mich wie ein Blitz, ließ mich zusammenzucken und meine Hände sinken. Völlig verspannt presste ich mich an die Wand. Mehr als die Hausecke trennten mich und den Gesichtslosen nicht mehr. Der Donner ließ lange auf sich warten. Schließlich traf er mich mit aller Heftigkeit:

"Willkommen im House of fun! Freut mich, dass du uns heute beehrst-" Mein Verstand setzte vollständig aus, als er meinen Namen aussprach.


𝐆𝐞𝐟𝐚𝐧𝐠𝐞𝐧 - in der eigenen FantasieWhere stories live. Discover now