Kapitel 1

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BRUNO

"Carlita! Carlita, wo bist du?" Ich seufzte und blieb an der Treppe stehen. Wo war meine Tochter nur wieder hin? Heute würde ihre Gabenzeremonie stattfinden und wir konnten sie schon seit Stunden nirgends finden! Sie war weder draußen, noch im Dorf oder sonst wo im Haus, so langsam hatte ich wirklich keine Ahnung mehr, wo ich sie noch suchen sollte! Carla versteckte sich öfters mal, aber so schlimm wie heute war es noch nie gewesen. Erst recht, seitdem meine Ratte Carla gestorben war, mit der meine Tochter gerne gespielt hatte, versteckte sie sich noch mehr als sonst. Lia und ich liebten den Namen Carla einfach und hatten deswegen beschlossen, unsere Tochter so zu nennen und die Namensähnlichkeit hatte auch zur Freundschaft zwischen meiner Tochter und der Ratte Carla beigetragen - bis sie eben gestorben war. Ich würde jetzt ja Amigo fragen, ob er Carla gesehen hatte, aber auch er war wie vom Erdboden verschluckt. Wo waren die beiden nur hin? Sie konnten doch nicht verschwunden sein! Ich blieb vor dem Kinderzimmer stehen und öffnete die Tür, um noch einmal hineinzusehen, aber außer Isabela und Dolores war niemand zu sehen. Isabela war Julietas Tochter, die einige Monate nach Carla geboren worden war, Dolores war die jüngste der drei Mädchen und Pepas Tochter. Meine Schwestern hatten ein knappes halbes Jahr nach Lia und mir geheiratet. Julieta hatte Augustín geheiratet, einen hochgewachsenen, ruhigen Mann, der aber leider mit einer starken Allergie gegen Bienen zu kämpfen hatte, diese aber leider wie magisch anzog. Also musste Julieta ihn ständig heilen und so hatten die beiden sich auch kennen gelernt. Pepa hatte Félix geheiratet, einen kleineren Mann, der aber wirklich gut mit ihr und ihren Stimmungsschwankungen umgehen konnte. Er konnte sie mit nur einem sanften Blick beruhigen und die Sonne wieder strahlen lassen und kümmerte sich wirklich gut um sie. Ich war glücklich mit den Veränderungen in den letzten Jahren. Ich sah meine Nichten an, die im Kinderzimmer saßen und spielten.
"Hey, ihr zwei, habt ihr zufällig eure Cousine gesehen? Wir können Carla schon seit Stunden nicht mehr finden!", fragte ich die beiden, aber sie schüttelten den Kopf.
"Tut uns leid, tío, aber wir haben sie nicht gesehen", antwortete Dolores, ich seufzte.
"Na gut, danke, ihr zwei. Dann spielt mal weiter", erwiderte ich und schloss die Tür, um weiter nach Carla zu suchen. Wo könnte sie bloß sein? Ich ließ meinen Blick über die Galerie schweifen und sah Carlas neue Tür, die bereits leuchtete. Das alles musste sie bestimmt nervös machen, ich war damals schließlich auch sehr nervös gewesen. Aber wo hatte sie sich verkrochen? Ich seufzte leise und sah mich weiter um und entdeckte dann das Bild, hinter dem sich Lias und mein Geheimgang befand. Wir nutzten ihn nur noch selten, aber Carla wusste davon. Na klar, wieso war ich nicht früher darauf gekommen? Ich ging auf das Bild zu und hob es an, um dahinter zu klettern. Ich ging den dunklen, staubigen Gang hinab und fand meine Tochter schließlich zusammengekauert auf dem Boden sitzen. Ich setzte mich zu ihr und nahm sie in den Arm. "Hey, Carlita, da bist du ja! Wir suchen dich schon seit Stunden, was machst du denn hier?" Sie sah mich an und wirkte dabei total verzweifelt.
"Ich will die Zeremonie nicht machen. Was ist, wenn das Wunder mich nicht mag und ich keine Gabe bekomme? Dann bin ich nutzlos!", erwiderte sie ängstlich, während Amigo hinter ihr hervorkletterte. Na also, die kleine Ratte war hier und hatte ihr schon einmal ein wenig Trost gespendet. Ich drückte meine Tochter an mich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
"Wie kommst du denn auf solche Gedanken, mi hija? Du könntest nie nutzlos sein! Und das Wunder mag dich, jeder mag dich! Du wirst eine Gabe bekommen, da bin ich mir sicher! Und selbst, wenn es nicht so sein sollte, dann lieben wir dich trotzdem und du könntest nie unnütz sein!", wandte ich besorgt ein und strich ihr beruhigend über den Arm. "Aber das alles ist ein großer Schritt und das macht dir bestimmt Angst, oder?" Sie nickte.
"Ja, große Angst", gab sie zu und nickte, während Amigo auf ihre Schulter kletterte und an ihrem Gesicht schnupperte. Carla kicherte leise, weil die Schnurrhaare sie kitzelten. "Danke, Amigo."
"Du musst keine Angst haben, alles wird gut, das verspreche ich dir. Und wann hatte ich schon mal Unrecht?", versuchte ich sie aufzumuntern, worauf sie mich ansah.
"Als du dachtest, dass du kochen könntest und fast die Küche abgebrannt hast", antwortete sie, worauf ich bedächtig den Kopf wog.
"Gut, abgesehen davon", meinte ich. "Der Punkt ist doch, dass du das kannst und wir immer für dich da sind! Also komm, lass uns mal zu Mamá und Abuela gehen, die suchen auch schon nach dir. Wir müssen dich ja auch noch umziehen!" Ich stand auf und zog Carla ebenfalls auf die Füße, die sich ängstlich an meinen Poncho klammerte.
"Mamá und Abuela sind sicher sauer, weil ich mich versteckt habe", murmelte sie, aber ich lächelte sie beruhigend an und strich ihr über die lockigen, schwarzen Haare.
"Nein, das sind sie nicht, sie werden sich freuen, dich zu sehen. Keiner ist dir böse, Carlita, da kannst du dir sicher sein", beruhigte ich sie und nahm sie an die Hand. "Und jetzt komm, wir kriegen das schon hin. Ich bin ja bei dir." Sie nickte unsicher und folgte mir schließlich zurück auf die Galerie. Ich half ihr hinter dem Gemälde hervorzuklettern, doch als sie ihre leuchtende Tür sah, krallte sie sich wieder in meinen Poncho und vergrub ihren Kopf darin. "Alles ist gut, mi vida. Du schaffst das, das weiß ich." Ich schob sie auf die Treppe zu und ging dann mit ihr nach unten in die Küche, wo Lia und Mamá immer noch nach Carla suchten. "Hey, seht mal, wen ich in den Wänden gefunden habe." Die beiden drehten sich um, bevor Lia erleichtert aufatmete und Carla umarmte.
"Amor, ich hab mir solche Sorgen gemacht!", sagte sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "Wieso hast du dich versteckt?"
"Ich hatte Angst vor heute Abend", gab Carla schüchtern zu.
"Das brauchst du nicht, amor. Das wird der schönste Tag in deinem Leben, da bin ich mir zu hundert Prozent sicher. Na komm, wir gehen hoch und ziehen dich um", beruhigte Lia sie und hob sie hoch. "Du schaffst das, Carlita. Du kannst alles schaffen."

Ich brauche dich, Bruno 2 - Die Macht der FamilieWhere stories live. Discover now