Kapitel 22

47 5 0
                                    

BRUNO

Ich hielt mir die Wange, als Esteban mir die Ohrfeige gab und stolperte dabei über meine eigenen Füße. Ich fiel auf den Boden und brauchte eine Sekunde, bis ich mich wieder gesammelt hatte. Ich hörte einen hohen Schrei und sah auf. Carla stand an der Ecke und sah uns geschockt an, bevor sie sich umdrehte und panisch davonrannte. Oh nein, sie hatte unseren Streit gesehen! Sie hätte das niemals sehen sollen! Ich rappelte mich auf und wollte ihr nachrennen, aber Esteban schubste mich zurück auf den Boden und sah Ines und mich drohend an.
"Ihr bleibt hier, ich hole meine Enkelin. Ich erziehe sie jetzt!", fuhr er uns mahnend an und rannte dann hinter Carla her, aber ich ließ mir von ihm nichts sagen, was meine eigene Tocher anging! Ich sah Ines an.
"Bleibst du hier, falls sie hierher zurückkommt?", bat ich, sie nickte, also rannte ich los und folgte meiner Tochter und Esteban. Ich quetschte mich durch die Unmengen von Menschen, die mir verwirrt nachsahen, aber das ignorierte ich. Ich konnte sehen, dass Esteban in Richtung des nahegelegenen Waldes rannte, ich folgte ihm, obwohl ich bereits vollkommen außer Atem war. Für Carla musste ich das aber tun, ich musste sie zurückholen! Wir kamen in den dichten Wald, in dem mir sofort sämtliche Zweige und Blätter ins Gesicht schlugen. Carla hatte dieses Problem bestimmt nicht, sie war schließlich wesentlich kleiner! Aber was war, wenn sie sich im Unterholz versteckte? Da würden wir sie nie finden! Erst recht nicht in einem fremden Wald, der riesig war! Mir wurde langsam mulmig zumute, denn ich hatte wirklich Angst, dass ich sie nicht finden würde. Ich verlor Esteban nach einigen Sekunden und blieb unsicher an einer kleinen Kreuzung stehen. Was sollte ich jetzt tun? Ich wusste nicht, wohin Carla gegangen war und ich kannte mich hier nicht aus! Wo sollte ich also langgehen? Ich wollte nicht nach Carla rufen, da ich Esteban nicht auf mich aufmerksam machen wollte, also musste ich es irgendwie alleine schaffen! Wenn ich wenigstens Lia bei mir hätte! Sie hatte eine wesentlich bessere Orientierung als ich! Jetzt musste ich es aber irgendwie alleine schaffen. Und ich hatte nicht die Zeit, um Lia zu holen, also war das jetzt alles meine Aufgabe. Ich enschied mich für den linken Weg und lief ihn langsam entlang, um Carla besser suchen zu können. Irgendwo in diesem Wald musste sie ja sein! Ich schob Äste zur Seite, sah hinter Bäumen nach und lief langsam den Pfad hinab, in der Hoffnung, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Ich suchte weiter nach Carla und achtete auf jedes noch so kleine Geräusch im Wald, um Carla notfalls hören zu können. Sie war sicherlich stark geschockt oder vielleicht sogar traumatisiert und wer wusste schon, was das mit ihr machen würde! Ich wollte nicht, dass sie ewig traumatisiert blieb! Leise lief ich durch den Wald, aber blieb schließlich resigniert stehen. Ich seufzte. Wie sollte ich Carla nur finden? Dieser Wald war riesig und Carla könnte überall sein! Sollte ich umkehren und den anderen Weg probieren? Nein, lieber nicht, sonst traf ich vielleicht auf Esteban. Denn, wenn ich ihn hier nicht angetroffen hatte, dann war er sicher den anderen Weg entlang gegangen und ich wollte ihn jetzt wirklich nicht antreffen! Aber was war, wenn er Carla vor mir fand? Dann würde ich ewig durch diesen Wald irren und meine Tochter nie wieder sehen! Dieser Gedanke nahm in meinem Kopf überhand, aber ich atmete tief durch und versuchte ihn zu verdrängen, bevor ich weiterlief. Irgendwo musste Carla doch zu finden sein! Da hörte ich ein leises Schluchzen. War das Carla? Sofort hob ich den Kopf und folgte dem leisen Geräusch, das genauso gut ein Rascheln der Blätter hätte sein können. Aber je näher ich einem der hohen Büsche kam, desto lauter wurde das Geräusch und ich war mir jetzt sicher, dass ich Carla tatsächlich gefunden hatte. Ich folgte ihrem leisen Weinen und fand sie schließlich zusammengekauert unter einem Busch sitzen. Ich seufzte erleichtert und setzte mich neben sie, um sie an mich zu drücken und ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.
"Carlita, mi vida! Endlich hab ich dich gefunden! Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!", seufzte ich erleichtert und drückte sie weiter glücklich an mich. Sie umarmte mich und weinte in meinen Poncho. "Ist ja gut, mi vida, alles ist gut. Ich bin ja da. Ich lasse dich nicht alleine, versprochen." Sie nickte und löste sich langsam von mir, während sie sich über die kleinen Augen wischte, um die Tränen loszuwerden.
"Ich hab dich vermisst, Papá", schluchzte sie, ich lächelte sie an und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
"Ich dich auch, Carlita, ich dich auch. Wie kamst du eigentlich auf die Idee, mit Esteban mitzugehen?", fragte ich besorgt nach und strich ihr über die Haare. Sie zuckte die Schultern.
"Ich hab gehört, wie Mamá und du gesagt habt, dass es ihr wegen Abuelo Esteban so schlecht geht und da dachte ich, dass ich mit ihm reden kann und er Mamá heilt! Er meinte aber, dass er das nicht kann und hat mich hierher mitgenommen, damit wir nach einer magischen Blume suchen können, die Mamá heilt", antwortete sie. "Aber er war seit gestern Morgen total gemein zu mir und hat mir bei nichts geholfen! Auch nicht, als ich mich verletzt habe!" Sie zeigte mir ihren Fuß und ich sah erst jetzt, dass dieser in einem Verband steckte und leicht geschwollen war.
"Was ist passiert, Carlita?", fragte ich besorgt nach und legte meine Hand vorsichtig auf den Verband. Ich konnte die Hitze spüren, die von ihrem Fuß ausging und strich vorsichtig darüber. "Und tut es sehr weh?"
"Ja, schon. Ich bin von der Theke gefallen und hab mir dabei den Fuß umgeknickt. Dann bin ich noch in Scherben getreten, aber da hat Abuelo mir ein Pflaster drüber geklebt", antwortete sie mir und sah mich schuldbewusst an. "Tut mir leid, dass ich einfach gegangen bin, Papá, ich wollte euch keine Sorgen machen, aber ich wollte diese Blume für Mamá finden und ihr helfen! Und ich wollte auch schon viel früher wieder zuhause sein, aber Abuelo hat mich nicht gelassen!"
"Ist in Ordnung, mi vida. Weißt du, deswegen hab ich dich vor ihm gewarnt. Er ist kein netter Mensch und er hat dich leider reingelegt. So eine Blume gibt es gar nicht, weißt du? Aber wenn wir jetzt wieder nach Hause gehen und Mamá dich sieht, dann geht es ihr bestimmt sofort besser!", beruhigte ich sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Mach dir keine Sorgen, ja? Wir kriegen das schon wieder hin. Und von Abuelo Esteban halten wir uns ab sofort fern, ja? Nicht, dass dir noch etwas passiert." Sie nickte. "Gut, dann komm. Ich trage dich auch, dann tut dir dein Fuß nicht so weh. Wir holen jetzt Abuela Ines ab und gehen dann zurück nach Hause, ja?"
"Ja, bitte", stimmte sie mir schnell zu, also stand ich auf und hob sie hoch, um sie zurück ins Dorf zu tragen. Wir suchten uns gemeinsam den Weg zurück zu Estebans Straße, um Ines abzuholen. Doch als wir in die Straße kamen, konnten wir Ines nicht finden. Wo war sie denn? Ich sah mich verwirrt um und bemerkte dann, dass die Tür offen stand. War sie vielleicht nach oben gegangen? Unsicher ging ich mit Carla nach oben und bemerkte, dass auch Estebans Wohnungstür einen Spalt offen stand. Ich ging mit Carla näher und drückte die Tür auf.
"Ines? Bist du hier?", rief ich durch die Wohnung, worauf Ines sich in den Raum schob. Und hinter ihr stand Esteban mit einem Messer, das er ihr an die Kehle hielt. Was tat er da?! Was sollte das?! Ich sah Carla an. "Carlita, geh bitte noch mal nach draußen." Sie nickte und vergrub sich in ihrem neuen, lila Poncho, worauf ich sie runterließ und sie vor die Tür ging. Ich sah Esteban an. "Lass Ines los, Esteban! Du hast schon genug angerichtet!"
"Ich will meine Enkelin, und das sofort! Also, entscheide dich. Entweder musst du damit leben, die Mutter deiner großen Liebe umgebracht zu haben oder du überlässt mir Carla. Es ist deine Wahl, Bruno. Ines' Leben hängt von dir ab, du kleiner, nichtsnutziger Hellseher. Du solltest dich also lieber gut entscheiden."

________________________________________________

Was glaubt ihr, wie Bruno sich entscheiden wird? Was wird er tun? Wenn ihr eine Idee habt, schreibt sie gerne in die Kommentare! :)

Ich brauche dich, Bruno 2 - Die Macht der FamilieWhere stories live. Discover now