Kapitel 5

488 116 8
                                    

Der Elektriker hält sie für verrückt, aber Hilde ist nicht verrückt. Hilde kämpft. Die alte Frau kämpft, ganz allein gegen ein unsichtbares Heer aus grausamen Soldaten. Krieg fordert Opfer. Eins davon ist ihr wöchentliches Telefonat mit ihrer Freundin aus Kindertagen, ein anderes ihr Spaziergang im Park. In Kriegszeiten hat man nicht immer Zeit für die Dinge, die einem sonst Freude bereiten. Nicht immer hat man Gelegenheit zum Schlafen, Essen oder eine warme Dusche. Vielleicht erscheint Anderes auch plötzlich einfach viel wichtiger.
Zu ihrer Verabredung zum Karten spielen geht Hilde nicht, sie war schon dabei sich Schuhe und Mantel anzuziehen, als sie die Erinnerung an einen der letzten Tage mit Bernd durchströmte wie ein Stromschlag. Sie kann nicht jetzt nicht gehen, also setzt sie sich in den Flur, mit Schuhen und den Mantel über einen Arm gezogen und beginnt hektisch die Bilder in ihrem Kopf in Worten auf das Papier zu malen, bevor sie wieder verschwimmen.
Der Elektriker hält sie für verrückt, aber er weiß ja auch nicht, wie es sich anfühlt, besiegt zu werden, egal wie verzweifelt man kämpft. Er kennt das Gefühl nicht, etwas in den Händen zu halten und seine wahre, überwältigende Schönheit erst zu erkennen, wenn es dir schon heruntergefallen ist und du fassungslos in den Scherben stehst und dich nicht mehr daran erinnern kannst, wie es aussah, als es noch ganz war.
Er hat keine Ahnung, wie es ist, seine Enkeltochter zu vergessen, aber dafür den traurigen, entsetzten Blick ihres Onkels immer vor Augen zu haben.
Vergessen ist wie Sterben, nur langsamer, das Leben wird einem Stück für Stück aus den Händen gerissen und das hinterlässt blutige Löcher, die man nicht wieder füllen kann, weil man die nötigen Puzzlestücke nicht finden kann.
Nach und nach ist man immer mehr Loch und immer weniger man selbst.
Und das kann Hilde nicht ertragen, also führt sie Krieg.

Hildes KriegWhere stories live. Discover now