10 - Die Schlossbibliothek

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In den nächsten Minuten erlebte wir eine Invasion in Form einer Horde Touristen. Zunächst zögernd und dann in einem gleichmäßigen Strom betraten sie den Hof und eroberten das Schlosscafé wie ein Schwarm farbenfroher Krähen oder plappernder Papageien. Die Gruppe war groß, laut und bunt gemischt. Von Dreikäsehochs bis Senioren mit Gehstöcken belegten sie die zur Verfügung stehenden Stühle und Sessel, entweder um ihr Gepäck darauf abzustellen oder sich hineinfallen zu lassen, als seien die fünfzig Schritte vom Parkplatz bis hierher einem Marathon gleichzusetzen.

Eine Frau mittleren Alters in einem geblümten Sommerkleid rauschte durch die Ansammlung von Gästen, als läge deren Wohlergehen in ihrer alleinigen, persönlichen Verantwortung. Mit einer schmerzhaften Kombination von orange, lila und limettengrün zog ihr Kleid auch alle Blicke auf sich. Auf ihren hohen Absätzen schaukelte sie gekonnt von Gruppe zu Gruppe und hakte Namen auf einem pinkfarbenen Clipboard ab. Nachdem sie alle Neuankömmlinge zweimal durchgezählt hatte, stürmte sie mit schwingender Dauerwelle Richtung Rezeption davon.

Mit dröhnenden Ohren rieb ich mir die Stelle, wo Mister Mortimer seine Krallen in mein Bein versenkt hatte, bevor er sich mit einem eleganten Sprung in Sicherheit brachte und eiligst den Hof verließ. Einmal mehr beneidete ich ihn um die Freiheit, seinen Gefühlen jederzeit freien Lauf zu lassen.

„Wer sind diese Leute?" Theos berechtigte Frage ging beinahe unter in dem Tumult aus Lachen, Beschwerden über die unerträgliche Hitze und Babygeschrei.

Catherine verzog gequält das Gesicht und hob ihre Stimme. „War nicht eine größere Gruppe angekündigt, aufs Wochenende?"

„Ja, Louis hat erwähnt, dass er eine Geburtstagsgesellschaft erwartet." Alice trank ihre Tasse aus und setzte sie klirrend ab. „Was meinst du, Cat, wollen wir unseren unterbrochenen Spaziergang fortsetzen bevor wir Mittagspause machen? Ich brauche noch etwas Bewegung."

Ich konnte den beiden nicht verübeln, dass sie die Flucht ergriffen. Entschlossen, es ihnen gleich zu tun, stellte ich die leeren Tassen zusammen. „Am besten räumen wir auch gleich das Feld und suchen uns eine ruhigere Ecke."

„Was ist mit der Bibliothek?" Natürlich war es Theo, der wusste, dass es im Schloss eine Bibliothek gab. Dabei fiel mir ein, dass auch Ritter Guillaume bereits so etwas erwähnt hatte.

„Bibliothek klingt gut. Die Leute sehen nicht aus, als seien sie zum Lesen hier." Matt zwinkerte mir zu, hob das Tablett auf und ging voran zum Schlosseingang.

Während Theo und ich in der Lobby warteten, dass er seine Ladung schmutziges Geschirr in der Küche ablieferte, stürmte der orange geblümte Drache an uns vorbei, gefolgt von Louis. Das professionelle Lächeln auf seinem Gesicht hätte mich beinahe getäuscht. Aber die Fältchen rund um seine Augen und die gespannten Wangenmuskeln verwandelten seinen Ausdruck in eine leicht gequälte Grimasse. Entweder die Ereignisse des Morgens oder die Drachendame hatten unserem unerschütterlichen Boss eindeutig zugesetzt.

Ich fühlte Mitleid mit ihm. „Alles in Ordnung, Lou? Wir sind in der Bibliothek, falls du uns brauchen solltest."

Er nickte und rollte hinter dem Rücken seiner vorauseilenden Begleiterin vielsagend die Augen. Als er an mir vorbeiging, berührten seine Fingerspitzen kurz meinen Handrücken und eine winzige elektrisch Entladung ließ den Muskel in meinem Unterarm zucken. Ich blickte ihm überrascht nach. Was machte ihn wohl heute so kontaktfreudig?

Allerdings vergaß ich das Vorkommnis, sobald wir die Bibliothek im zweiten Stock des Schlosses betraten. Durch die diamantenförmigen Ausschnitte in den geschlossenen Fensterläden filterte gedämpftes Licht in das Eckzimmer. Der Raum war mit dunklem Täfer ausgekleidet — zumindest dort, wo nicht Büchergestelle bis zur hohen, stuckverzierten Decke reichten. Hunderte, nein, tausende von Büchern füllten die Regale, von staubigen alten Wälzern im Ledereinband zu Fotobänden und zerlesenen Taschenbüchern. Es gab extra eine Leiter auf Rollen, um die oberen Bereiche gefahrlos zu erreichen. Mein bibliophiles Herz schlug höher. Ausgetretene Orientteppiche dämpften meine Schritte, als ich entlang der Gestelle ging und meine Fingerspitzen sanft über die Buchrücken gleiten ließ. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie sehr ich meinen ruhigen Job in der Bibliothek vermisste.

Der Erbe des Raben | Wattys 2022 GewinnerWhere stories live. Discover now