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4 - Kopf gegen Körper

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"Wenn der Brunnen trocken ist, schätzt man erst das Wasser."

✶✶✶

Ich ritt durch die Nacht, gönnte mir und meinem Kamel keine Ruhe. Es galt, zwischen mir und der Karawane so viel Abstand zu gewinnen, wie es nur menschenmöglich war. Ich traute diesem Kamelführer nicht. Der Zorn, mit welchem er nach mir geschrien hatte, hallte noch immer in meinem Schädel wie eine konstante Todesdrohung, die er irgendwann wahr machen würde, wenn ich nicht mehr Schritte zwischen uns brachte.

Die Sonne ging im Osten auf und wärmte meinen unterkühlten Körper. Bald würde ich vor Hitze schwitzen. Das Trinkwasser in meinem Beutel hatte ich noch nicht angerührt. Ich wusste, dass ich es später dringend brauchen würde.

Abermals korrigierte ich meinen Kurs und marschierte eine Weile lang Richtung Süden. Nach einem Tagesmarsch würde ich mich wieder in die korrekte Himmelsrichtung bewegen. Jaradin lag im Südosten. Ich vermutete, dass ich die Oase somit nicht verfehlen würde.

Hoffentlich.

Mein Magen knurrte laut und aufgebracht. Ich litt unter starkem Kohldampf, dabei hatte ich gerade Mal auf das Abendessen und das Frühstück verzichtet. Ich war schon immer eine besonders hungrige Nomadin gewesen. Meine Mutter hatte sich stets über die monströsen Geräusche lustig gemacht, die mein Magen von sich geben konnte, als wohne ein Löwe darin.

Sitty hatte gemeint, dass mein Bauch genauso unersättlich sei wie meine Seele. Ich durste nach Wissen und hungere nach Essen. In beiden Hinsichten war ich masslos.

Mein Kamel erklomm den Grat einer hohen Düne. Vor mir erstreckte sich die Unendlichkeit der Wüste. Tausende Hügel, die alle dem anderen glichen, als seien sie Zwillinge, Drillinge, Vierlinge — eine sandige Grossfamilie. Die Dünen warfen sichelförmige Schatten auf eine Seite. Schatten, die verschwinden würden, sobald die Sonne ihren Zenit erreichte. Dann würde die Hitze unerträglich werden.

„Brooooaaaaäöh", machte mein Magen.

Ich schluckte Spucke, um den Hunger zu stillen. Das hier würde nicht nur ein Überlebenskampf werden, sondern auch eine Fehde gegen mich selbst. Körper gegen Verstand. Ein drittes Magengrummeln liess mich frustriert aufseufzen. Ich musste meinen Kopf auf andere Gedanken bringen, anstatt ständig an Sittys herzhafte Linsensuppe oder an die knusprig, klebrig-süsse Baklava vom Bäcker in Kesh zu denken.

So beschloss ich zu lesen, trotz des Wackelns auf dem Rücken des Kamels. Wenn mein Körper schon hungern musste, dann wollte ich mindestens meinen Verstand füttern — vielleicht half das ja.

Das Kamel erreichte den höchsten Punkt der Düne und marschierte auf dem parabelförmigen Kamm weiter. Auf der Seite zu meiner Rechten fiel der Sand steil ab und endete erst mehrere hundert Schritte weiter unten. Diese Düne war wirklich hoch. Ich lehnte mich nach vorne, damit ich das Buch aus meiner Tasche ziehen konnte. Leider sass ich zu weit hinten im Sattel, sodass ich mich aufrichten und strecken musste, um mit den Fingerspitzen die Klappe des Leders zu streifen. Ich schaffte es und kriegte das Buch in die Hände. Da machte das Kamel einen Fehltritt und rutschte seitlich ab. Das Buch glitt mir aus den Fingern. Reflexartig griff ich danach, doch meine Arme schwangen ins Leere und sorgten dafür, dass ich mein Gleichgewicht gänzlich verlor.

Die Schwerkraft zog mich zu Boden.

Gesicht voran prallte ich in den Sand. Nicht ganz so hart, weil die Körner sofort unter meinem Gewicht nachgaben und mit mir den Abhang hinunterglitten.

Die Welt begann sich zu drehen. Im Kreis. Immer und immer wieder.

Ich spürte die Hitze des Sandes an meinen Schultern, an meinem Rücken, dann an meinem Bauch und an meinem Gesicht und schliesslich wieder an meinen Schultern. Ein ewiges Drehen, als wäre ich ein Spinnrad, das immer schneller um seine eigene Achse wirbeln wollte.

Zwischen Sand und SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt