1.Kapitel

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Gerade als ich dachte, dass sich mein Leben wieder einigermaßen stabilisiert hätte, geriet es mehr aus den Fugen als je zuvor.
Mein Leben war eine einzige Hölle, seitdem mein Sohn verschwunden war.

Mittlerweile wäre Hunter schon fast drei Jahre alt. Heute war der zweite Jahrestag seines Verschwindens. Ich erinnerte mich jedoch an den Tag, als wäre er erst gestern gewesen.
Vor genau zwei Jahren wachte ich durch ein lautes Geräusch auf. Es war eine warme Sommernacht gewesen - und zwei Tage nachdem ich diese ominöse Nachricht von Donotcry666 auf meiner Darknet-Seite thispersondoesnotexist.onion bekommen habe.
Es ist damals also genau so eingetroffen, wie Derek es mit diesem bescheuertem Rumpelstilzchen Zitat angekündigt hatte.
Beziehungsweise nichtmal Derek. Ich denke, es war einer von Dereks Komplizen, da mein Peiniger schließlich noch offiziell im Gefängnis saß.

Wie dem auch sei, in dieser besagten Sommernacht hatte ich vor gehabt, die ganze Zeit wachzubleiben. Irgendwann bin ich aber an das Kinderbett meines Sohnes gelehnt, eingeschlafen. Leider Gottes habe ich auch einen ziemlich tiefen Schlaf, weswegen ich selbst bei lauten Geräuschen nur schwer wach werde. Theo hatte an diesem Tag zuhause geschlafen, bei May, da sich die beiden eine Viruserkrankung, welche zu dieser Zeit auf Mays Arbeit herum ging, eingefangen hatten.
Beide hatten Angst Hunter und mich anzustecken, weswegen sie bei sich geschlafen hatten.
Denn seit Hunter geboren wurde, haben die Geschwister nur noch in meinem Haus rumgehangen, bis Theo schließlich nach Hunters Verschwinden bei mir einzog.

Um ehrlich zu sein, hatte ich die Situation als weniger ernsthaft eingeschätzt, als sie eigentlich war. Denn wie gesagt - Derek saß noch im Gefängnis, saß er zu dem damaligen Zeitpunkt bereits schon, weswegen ich dachte, dass er nur bluffen würde. Natürlich hatte ich da aber wohl seine Komplizen unterschätzt.
Denn zwei von diesen waren vor genau zwei Jahren in der Nacht in mein Haus eingebrochen und hatten meinen Sohn mitgenommen, während ich daneben schlief.
Ich kam mir damals so unglaublich dumm vor und hatte mir die größten Schuldgefühle gemacht, weil ich erst aufwachte, als die beiden die Haustür mit einem lauten Knall zuschlugen. Und nichtmal dann hatte ich realisiert was los war. Ich war aufgewacht und hatte im Halbschlaf gedacht, dass mein Sohn noch in seinem Bett liegen würde, da seine kleine Decke zu einer menschenähnlichen Form zusammengerollt war. Zumindest sah es durch meine vom Schlaf verquollenen Augen so aus. Auch hatte ich nicht verstanden, dass ich durch den Knall meiner Haustür aufgewacht war, weswegen ich garnicht nachschaute was los war. Ich wachte dann erst wieder am nächsten Morgen auf und zu diesem Zeitpunkt waren die Männer inklusive meinen Sohn natürlich schon über alle Berge.

Ich hatte den intensivsten Nervenzusammenbruch meines Lebens gehabt, welcher daraufhin von einer starken Panikattacke abgelöst wurde. Ich hatte Theo angerufen, welchem ich aufgebracht erzählte, dass Hunter verschwunden war.
Es fühlte sich schlecht an, Theo nicht die ganze Wahrheit sagen zu können. Ich hatte ihm bis heute nicht erzählt, dass ich thispersondoesnotexist.onion weitergeführt hatte. Deswegen hatte ich ihm nicht von Donotcry666's Drohung erzählt gehabt, neben dem Grund, dass ein kleiner Teil von mir dachte, das Derek bluffen würde natürlich. Ich hatte Angst vor der Reaktion meines Freundes, wenn er erfahren würde, dass ich im Prinzip schon wusste, dass unserem Sohn etwas zustoßen könnte, ich ihm dies aber verschwiegen hatte.

Naja. Es war ja nicht sein Sohn. Das wusste er aber auch noch nicht. Schuldgefühle zerfraßen mich, aber ich konnte ihm einfach nicht erzählen, dass Hunter wahrscheinlich eher der Sohn meines damaligen Entführers, Sandor Scott war. Ich schämte mich extrem dafür nicht ehrlich zu sein, jedoch versuchte ich mir gleichzeitig einzureden, dass es so vielleicht das beste wäre, um Theo nicht enttäuschen zu müssen.

Übrigens wusste auch Sandor noch nichts von seinem Glück. Ich wollte diesem zwar einen E-mail oder einen Brief ins Gefängnis schicken, jedoch wurde das zur Nebensache, als ich die Nachricht von Donotcry666 vor einem Jahr gelesen hatte. Und nachdem mein Sohn entführt wurde, hatte ich nicht die Kraft dazu gefunden. Wie hätte ich die Nachricht auch anfangen sollen?
Ach hey Sandor, du hast übrigens einen Sohn, der wurde aber jetzt entführt, also wird das neben dem Fakt, dass du noch im Gefängnis sitzt mit dem Kennenlernen schwierig.
Etwa so? Ich verzog das Gesicht.
Nein, so konnte ich es ihm definitiv nicht beichten. Konnte ich es ihm überhaupt irgendwie sagen?

Ich hatte Sandor immernoch nicht verziehen. Er war mein Entführer gewesen - der Mensch, der mich aufs übelste misshandelt hatte. Er war ein Krimineller. Wollte ich einen Vater für meinen Sohn, welcher vier Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte? Eher nicht.
Wollte Sandor überhaupt noch Kontakt zu mir nach der ganzen Sache? Ich konnte mir vorstellen, dass die Schuldgefühle ihn regelrecht auffressen mussten. Vielleicht würde er sich niewieder bei mir melden, weil er hoffte, dass ich so mit der ganzen Geschichte abschließen würde? So schätzte ich Sandor ein.
Und ich wäre ihm um ehrlich zu sein auch sehr dankbar, wenn er es genauso täte.
Ich wollte nicht wieder schwach werden, wenn ich in seine grünen Augen sah. Ich wollte nicht, dass mein Herz wieder schneller schlägt, wenn er mich anlächeln würde. Ich wollte nicht wieder eine Gänsehaut bekommen, wenn ich seine Stimme hören würde.
Immerhin war er mein Entführer.
Und noch im Gefängnis, soweit ich bescheid wusste.
Und ich hatte Theo.

Nun ja, mehr oder weniger, denn Theo und ich stritten uns in letzter Zeit häufig.
Eigentlich die ganze Zeit schon, seitdem Hunter entführt wurde. Es fühlte sich nicht gut an, zum einen, da Streit sich natürlich nie gut anfühlte, zum anderen, da Theo und ich bevor wir ein Paar wurden, noch nie in unserem ganzen Leben miteinander gestritten hatten.
Ich bekam so langsam das Gefühl, dass wir als Freunde besser funktionierten.
Jedoch liebte ich ihn. Er war trotzalldem mehr für mich da gewesen, als irgendjemand zuvor- mal abgesehen von May natürlich.
Theo war so perfekt. Wie ein wahrhaftiger Engel. Und ich merkte, wie auch er immer wieder versuchte, mich auf dasselbe himmlische-perfektheits-Level zu holen. Als er aber merkte, dass das bei mir nicht funktionierte, wurde er oft lauter. Oft frustriert. Es tat mir wahnsinnig leid, aber ich war seit der Entführung nicht mehr die Selbe und erst recht nicht, seitdem mein Sohn verschwunden war.

Bis heute ging ich noch in Therapie, bis heute hatte ich noch ab und zu Panikattacken oder Albträume. Bis heute verschwieg ich noch signifikante Dinge meinen engsten Bezugspersonen.

Ich hatte aber das Gefühl, dass Theo langsam meiner Geheimniskrämerei auf die Schliche kam, denn so wie ich gerade am Computer saß und eine Anfrage auf thispersondoesnotexist.onion bearbeitete, öffnete sich meine Tür. Erschrocken fuhr ich herum. Wie konnte das sein? Theo sollte schon längst auf der Arbeit sein. Er hatte nachdem unser Sohn entführt wurde eine Ausbildung bei der Polizei angefangen. Sein Arbeitstag wäre normalerweise vor zwei Stunden losgegangen.
Wie versteinert stand Theo in Arbeitsklamotten im Türrahmen und blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an.

»Was machst du da?«, ertönte seine Stimme.

This Person Will Not ExistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt