Ein nächtliches Gespräch

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Hannah Abbott lächelte verträumt. „Ich glaube nicht, dass ich seine Geschichte so einfach hinnehmen könnte ... sie müssen ihm wirklich vertrauen."
Für einen Moment schien Megans Blick weit in die Vergangenheit zu reichen. „Sie kennen einander schon sehr lange."

In einer kleinen, von Feldern umgebenen Straße, leuchteten die Neonlichter einer abgelegenen Tankstelle durch die Nacht. Als sich die elektronische Schiebetür öffnete, erwachte ein Tankwart unverhofft aus seinem Halbschlaf. Der Verkäufer hatte das Fahndungsbild von Sirius Black nie gesehen. Doch auch ohne dieses Wissen, war ihm nur allzu bewusst, dass es sich bei diesem Neuankömmling nur um einen Verbrecher handeln konnte. Mager und in zerrissener Kleidung, mit fettigem wirren Haar und Haut, die sich pergamentartig um sein Gesicht spannte, sah er wahrlich zum Fürchten aus.
Vorsorglich hob der überraschte Tankwart die Hände. „W-was wollen Sie?!"
„Eine Karte"", rief der Mann mit Verzweiflung in der Stimme. „Ein Königreich für eine Karte!"
„Ist das ein Überfall?", fragte der Verkäufer vorsichtig.
Der Fremde starrte ihn einige verständnislose Sekunden an. „Äh ... nein? Hör mal zu Kumpel, ich habe die letzte Nacht im Freien verbracht und habe absolut keine Ahnung, wo ich hier bin. Meine Laune ist also nicht die beste." Er holte tief Luft. „Sei einfach ein netter Muggel und sag' mir, wo ich hier bin, ja?"
Der Verkäufer blinzelte. „Bitte was?"
„Wo steht dieser verdammte Laden?!"
Der Tankwart sprang so schnell von seinem Stuhl auf, als hätte man ihm eine Nadel in den Allerwertesten gerammt. Hastig stolperte er an den Regalen entlang und hielt dem furchterregenden Mann eine Karte entgegen. „H-hier! Bitte, Sir."
„Ha! Na also!" Begierig nahm der Fremde die Karte entgegen und entfaltete sie mit einem Schwung seiner Hände. „Und wo genau sind wir?"
Ein zitternder Finger zeigte ihm einen Punkt auf der Karte.
„Ha!" Triumph trat in die Augen des Mannes. „Devonshire! Na also!"
Angesichts des unerwarteten Ausbruchs war der Tankwart einige Schritte zurückgewichen. „M-möchten Sie die Karte kaufen?"
Verständnislos blickte ihn der Mann an. „Ist es zu viel verlangt, wenn man einfach nach dem Weg fragt?"
Der Verkäufer starrte auf die Stelle, wo die schmutzigen Hände des Mannes dunkle Flecken auf dem Papier hinterlassen hatten. Der unheimliche Mann seufzte und begann seine Taschen zu durchwühlen. Nach einer Weile förderte er einige silber- und bronzefarbene Münzen zu Tage. „Reicht das?", fragte er.
Stirnrunzelnd betrachtete der Verkäufer die fremden Münzen. „Tut mir leid. Ich nehme nur englisches Geld. Welche Währung ist das überhaupt?"
Seltsam nachdenklich hob der Fremde einen Stock in die Höhe. „Vielleicht ist das hier doch ein Überfall. Und wo wir schon dabei sind. Hast du auch was zu essen?"

Kurze Zeit später zerriss ein sehr zufriedener Sirius Black die Verpackung eines Brötchens, während ihm der Verkäufer mit leerem, frisch oblivierten Blick nachstarrte. „Harry, ich komme!"

XXX

Jemand machte sich am Fenster zu schaffen. Harry lächelte, als er die beiden vertrauten Auren bemerkte. Es schien, als würde er in dieser Nacht noch Besuch erwarten. Hermine war bemerkenswert geschickt für eine Fünfzehnjährige. Aber Moody hatte Zauber geknüpft, die gefangene Todesser an Ort und Stelle hielten. Seine Lippen zuckten. Manchmal war es nicht des Rätsels Lösung, einen Zauber zu brechen. Manchmal konnte man sich auch die Kontrolle über ihn aneignen. Vorsichtig ließ Harry seine eigene Magie in die Sicherungen fließen. Die Bewegung war so langsam und fließend, das keine von Moodys Schutzvorrichtungen reagierte. Der Auror hatte nur sich selbst, Mrs Weasley, Kingsley und Dumbledore Zutritt gestattet. Harry bemächtigte sich dieses Teils des Zaubers und fügte sich selbst, Ron und Hermine in das System ein. Augenblicklich öffnete sich das Fenster geräuschlos und Ron und Hermine glitten hinein.
„Wie hast du das gemacht?", fragte Ron mit großen Augen an seine Freundin gerichtet. Hermine aber schaute stattdessen Harry an. „Das war ich nicht."
Harry neigte mit einem Lächeln den Kopf. „Es wäre unhöflich, solch angenehmen Besuch nicht zu empfangen."
Er half Hermine vom Besen und trat dann einen Schritt beiseite, damit Ron landen konnte. Dann schloss er mit einem Wink seiner Hand das Fenster. Hermine beobachtete ihn genau, während er die zauberstablose Bewegung wie selbstverständlich vollführte. Harry wirkte ... anders. Anders als er sich am Tag vor Mrs Weasley und den anderen gegeben hatte. Aber auch anders als in jener ersten Nacht, als er nach dem Vorfall im Ligusterweg zum ersten Mal die Augen aufgeschlagen hatte. Sie erkannte ihren Freund in ihm wieder. Und doch war da etwas Dunkles, Tiefes und Beherrschtes, das zuvor nicht da gewesen war. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie auch diese Seite an ihm kannte, vielleicht sogar besser als die andere. Das Gefühl von Vertrautheit war stärker als jemals zuvor.
Er lächelte entschuldigend. Es war Harrys Lächeln, ganz so wie sie es seit dem ersten Schuljahr kannte. Und doch war da ein Ausdruck in seinen Augen, den sie nicht ganz zuordnen konnte. „Ich hoffe, ich habe euch nicht zu sehr verwirrt", sagte er, während er ihnen beiläufig Sitzgelegenheiten anbot. „Wenn sie mir erneut vertrauen sollen, muss ich ihnen den Jungen vorspielen, den sie kennen."
Ron räusperte sich nervös. „Aber das bist du nicht mehr?"
Ruhig erwiderte Harry den Blick des Freundes. „Nicht nur. Ich nutzte die letzte Nacht um meine früheren und heutigen Erinnerungen miteinander zu vereinen."
„Frühere Erinnerungen?" Ron fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
„Er muss Okklumentik benutzt haben", sagte Hermine tonlos. „Als wir ihm das letzte Mal begegneten, kam er noch nicht dazu, seine Erinnerungen zu ordnen."
Scharf sog Ron die Luft an. „Okklumentik? Aber das beherrschen nur eine handvoll Zauberer."
Hermine war blass doch ihre Augen blitzten entschlossen, dieses Rätsel zu lösen. „Ich habe recht, nicht wahr?", fragte sie atemlos.
Harry nickte ihr zu. Ein warmes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Natürlich hast du das."
Zittrig holte Hermine Luft. „U-und ... an was erinnerst du dich?"
Harry blickte sie forschend an. „Weißt du es nicht?"
„Du hast ihn Salazar genannt", sagte Ron unsicher.
Hilflos blickte Hermine von einem zum anderen. „Aber das heißt doch nicht, was ich glaube was das heißt?"
Da sie immer noch stand, lenkte Harry sie zu einem Stuhl und ließ sie darauf Platz nehmen. „Das kommt wohl darauf an, was du glaubst", sagte er leise.
Hermine blickte ihn entgeistert an. „Das ist Wahnsinn, Harry!"
Ihr Freund lächelte sanft. „Was genau? Dass die schlauste Hexe in unserem Jahrgang die Wiedergeburt von Rowena Ravenclaw ist?"
Hermine schluckte, dann schüttelte sie so heftig den Kopf, dass die Locken flogen. „Ich erinnere mich nicht! Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, aber es ist viel zu wenig um ..." Ihre Stimme erstarb. Hilfesuchend blickte sie zu Ron.
„Ich glaube, er hat recht, Hermine", sagte der rothaarige Junge ruhig. „Ich habe den Tag über darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, wie ich sonst erklären soll, was sich zwischen euch beiden abgespielt hat." Ein nervöses Lächeln huschte über seine Züge. „Meine besten Freunde sind Rowena Ravenclaw und Salazar Slytherin. Oh Mann ..."
Harry blickte ihn lange an. „Ehrlich gesagt warte ich noch auf die Beschimpfung von mir und meinem Haus."
Ron scharrte unbehaglich mit den Füßen. „Wenn es jetzt Malfoy gewesen wäre oder so ... klar, dann hätte sich alles, was ich über Slytherin weiß, bestätigt. Aber es geht um dich, Harry. Ich habe dich im vierten Schuljahr im Stich gelassen, weil ich dir nicht geglaubt habe und ich tu's nicht nochmal. Du bist mein bester Freund. Und ich weiß, dass wenn du Slytherin bist, dann ist alles Unsinn, was man sich über dich erzählt hat." Seine Miene wurde säuerlich. „Wäre ja nicht da erste Mal, dass ich das miterlebe ..."
Grüne Augen blickten voll Wärme in die seinen. Doch Harrys Lächeln hatte einen beunruhigend bitteren Zug. „Ich danke, dir Ron."
Der rothaarige Junge schluckte. „Keine Ursache, ehrlich."
Hermine wirkte immer noch nicht wirklich überzeugt. Nervös wrang sie die Hände. „Woher kommen all diese Bilder? Warum das alles, Harry?"
Der wiedergeborene Zauberer trat zum Fenster und blickte hinaus in den mondbeschienenen Garten. „Was mich angeht, ich wurde beschworen. Von Voldemort."
„Was?", fragte Ron. „Wie kommt der denn auf die Idee?"
„Ich kann seine Motivation nur erraten. Erhofft er sich Verstärkung? Stärkere Anhänger? Oder geht es ihm darum, eine Armee aus dem Reich der Toten zu beschwören?"
Ron schauderte bei Harrys letzter Vermutung. „Moment! Geht das?"
„Oh, durchaus", erwiderte der dunkelhaarige Junge düster. „Diese Art der Magie ist ähnlich verrufen, wenn nicht gar bösartiger als die Erweckung von Inferi. Nekromantie ist eine wahrlich schwarze Kunst. Doch wir mögen Zeit gewonnen haben, da ihm diese erste Beschwörung nicht gelang." Ein leises Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Denn die Seele, die er zu beschwören suchte, wandelte bereits auf dieser Welt. Und so erreichte er nur, dass er lang vergessene Erinnerungen in mir erweckte." Sein Blick fiel auf Hermine. „Die Gründer von Hogwarts sind durch ihre Magie miteinander verbunden. Wäre unsere Magie nicht derart miteinander verwoben, niemals wäre es möglich, ein Werk wie Hogwarts gemeinsam zu errichten. Was einen von uns betrifft, betrifft in gewissem Maße uns alle. Ich denke, das ist der Grund, warum du dich teilweise erinnerst."
„Du meinst, die anderen könnten auch hier sein?", fragte Ron begierig.
Hoffnung und etwas, dass beunruhigend an Furcht erinnerte, trat in Harrys Augen, als er antwortete. Doch die Gefühle schwanden, noch ehe sich seine beiden Freunde sicher sein konnten. „Ich weiß es nicht, Ron. Sie müssten bereits hier sein, damit Voldemorts Anrufung ähnliche Wirkung erzielen kann, wie bei Hermine und mir. Ansonsten wären sie nur Geister die keinen Grund hätten, an diesem Ort zu verweilen. Aber es wäre möglich."
Eine Weile herrschte Schweigen, während Ron und Hermine sich sichtlich bemühten, sich einen Reim auf das zu machen, was sie erfahren hatten. „Bei Merlins Unterhosen", flüsterte Ron, während sich sein Blick irgendwo im nichts verlor. Hermine wirkte, wenn überhaupt möglich, noch unglücklicher. Harry wusste, wie sehr es die Freundin verabscheute, etwas nicht zu verstehen.
„Was machen wir jetzt?", fragte Hermine nach einer Weile. „Ich meine, sie können dich ja nicht ewig hier einsperren ... oder?"
„Oh, das werden sie nicht", sagte Harry mit einem leisen Lächeln. „Sie beginnen bereits wieder, mir zu vertrauen. Dass Dumbledore mich aus dem Zimmer gelassen hat, ist dafür ein gutes Zeichen."
„Du könntest ihn einweihen", sagte Hermine. „Du könntest ihm sagen, dass du nicht besessen bist."
„Und was soll ich ihm stattdessen mitteilen?", fragte Harry ruhig. „Dass ich die Wiedergeburt von Salazar Slytherin bin?"
„Er kennt dich", rief Ron entschieden. „Er muss dir einfach glauben. Sag ihm einfach, was damals wirklich passiert ist! Dass alles um Slytherin ein großes Missverständnis ist. "
Harry blickte lange von einem zum anderen. Auf einmal waren seine Züge kalt und nichtssagend. „Das Problem bei der Sache ist, jede einzelne Geschichte, die man sich über Salazar Slytherin erzählt, hat sich tatsächlich so ereignet."
Ron und Hermine starrten ihn an.
„Erzähl keinen Quatsch, Mann"", sagte Ron schließlich. „Niemals hättest du ..."
„Oh doch", erwiderte Harry und ein bitteres Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Ich sage nicht, dass ich stolz darauf bin. Aber ich habe jedes von diesen Dingen getan."
Hermine schüttelte den Kopf. „Der Basilisk ... die Kammer des Schreckens ..."
Harry schwieg.
„Ich bin selbst eine Muggelgeborene!"
„Ich weiß", flüsterte Harry.
Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Draußen rauschte der Nachtwind in den Zweigen. Irgendwo schrie ein Kauz.
„Warum?", fragte Ron. Seine Stimme klang rau.
Harry hatte eine distanzierte Maske aufgesetzt, die Hermine ganz und gar nicht gefiel. „Alles was passiert ist, ist nur aus der Zeit heraus zu verstehen."
In Hermines Augen standen Tränen. „Das ist keine Antwort", flüsterte sie.
„Nein", stimmte ihr Harry zu. „Das ist es nicht."
„Dann gib uns eine Erklärung!", forderte Ron.
„Ich denke, ihr solltet gehen", flüsterte Harry. „Ich danke euch für euren Besuch. Und ... es tut mir leid."
Ron und Hermine starrten ihn an. Zögernd griffen sie nach ihren Besen und wandten sich in Richtung des Fensters.

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