Schicksal

26 1 0
                                    

Es war der zweite Mai 2002. Ein kühler und verregneter Donnerstagmittag in Darktown in der Nähe von London. Daniel Craw war zehn Jahre alt. Normalerweise wäre er noch in der Schule gewesen, aber er lag schon seit ein paar Tagen mit einer Erkältung zu Hause. Heute ging es ihm zum Glück schon deutlich besser. Seine Mutter, die sich für ihn frei genommen hatte, bereitete gerade das Mittagessen vor.
"Mist," schimpfte sie.
"Was ist denn?" fragte Daniel, der in der Küche am Tisch saß.
"Würdest Du schnell noch mal zum Supermarkt gehen? Wir brauchen fürs Essen noch einen Liter Milch," bat seine Mutter.
Daniel stand auf und zog sich seine Jacke und seine Schuhe an. "Bei dem Verbrauch, den wir haben, sollte ich lieber gleich eine ganze Kuh kaufen," witzelte er. Seine Mutter lachte und gab ihm Geld. Dann ging er los.

Der Gehweg war noch nass vom letzten Regen. Da hatte Daniel eine Idee, mit der er sich den Weg zum Supermarkt versüßen wollte: Er sprang fröhlich von Pfütze zu Pfütze. Das kalte Regenwasser spritzte ihm bis auf die Hose. Dabei vertiefte er sich so sehr in sein Spiel, dass er vergaß, wo er hintrat.

Plötzlich riss ihn etwas aus den Gedanken. Hektisch sah Daniel auf. Er blickte direkt in das Gesicht eines Autofahrers. Augen und Mund waren weit aufgerissen und er umklammerte das Lenkrad. Daniel versuchte noch, zur Seite zu springen. Aber es war zu spät. Das Auto erwischte ihn. Er flog durch die Luft und schlug mit dem Kopf hart gegen die Bordsteinkante. Ein starker Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper, als er auf der kalten und nassen Fahrbahn landete. Quietschende Autoreifen, Schreie umstehender Menschen - dann wurde die Welt für ihn still.

Als ihr Sohn nach einiger Zeit noch immer nicht zurückgekehrt war, begann Mrs. Craw, immer wieder auf die Uhr zu sehen. Sie lief im Flur auf und ab. "Was, wenn ihm etwas passiert ist?" dachte sie. Sie versuchte, den Gedanken beiseite zu schütteln. "Er ist bestimmt nur bei seinem Kumpel oder so." Doch da klingelte es an der Tür. Als Mrs. Craw öffnete, verschlug es ihr die Sprache. Zwei Polizistinnen standen davor. Eine blond, die andere rothaarig.
"Guten Tag. Dürfen wir reinkommen?" fragte die Blonde.
"N-Natürlich." Mrs. Craw ließ die beiden hinein und bat sie in die Küche. Der Gesichtsausdruck der beiden Frauen bereitete ihr Magenschmerzen.
"Sind Sie die Mutter von Daniel Craw?"
Mrs. Craw nickte. Ihre Hände begannen zu zittern.
"Mrs. Craw ..." begann die Rothaarige mit sanfter Stimme. "Ihr Sohn hatte einen schweren Unfall. Er wurde von einem Auto erfasst. Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Es tut uns sehr leid."
Mrs. Craw wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Stattdessen spürte sie, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Ihre Brust fühlte sich an, als hätte ihr jemand das Herz ausgerissen. Die blonde Polizistin reichte ihr ein Taschentuch. "Sollen wir jemanden für Sie anrufen?"
Mrs. Craw schüttelte den Kopf. "Nein danke, das mache ich lieber selbst."

In einer Autowerkstatt unweit von ihrem Haus klingelte das Telefon. Ein Mann nahm ab. "Hallo? Hier ist die Autowerkstatt Darktown. Sie sprechen mit Tim Craw."
"Tim, hier ist Linda." Mrs. Craws Stimme zitterte heftig.
Mr. Craw umklammerte den Hörer, bis seine Knöchel weiß wurden.
"Daniel ist tot."
Mr. Craw ließ fast den Hörer fallen. "Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist."
Seine Frau schluchzte. "Die Polizei war gerade hier. Er ist tot."
Mr. Craw knallte den Hörer auf das Telefon und machte sich sofort auf den Weg nach Hause.

Zu Hause wartete seine Frau auf ihn. Sie saß mit gesenktem Blick und Tränen im Gesicht auf dem Sofa. Ihr Mann setzte sich neben sie. Er hatte noch gar nicht realisiert, was passiert war.
"Wie sagen wir es Susan?" fragte seine Frau schluchzend. Susan war Daniels ein Jahr ältere Schwester. Nach der Schule war sie mit Freundinnen nach London gefahren. Sie würde erst abends wiederkommen.
"Ich weiß es nicht," antwortete ihr Mann.

Doch was die beiden nicht ahnten: Daniel war ebenfalls anwesend. Als Geist stand er unsichtbar ihnen gegenüber im Wohnzimmer. Er ging zu seinen Eltern und wollte sie umarmen, doch das schlug fehl. Stattdessen glitt er einfach durch die hindurch. "Mama, Papa..." flüsterte er leise, doch sie konnten ihn nicht hören. Das ließ Daniel in sich zusammen sinken. Er wünschte sich so, dass sie ihn sehen konnten!

Die Wochen verstrichen nur langsam. Daniels Beerdigung ging vorüber. Nach einer gefühlten Ewigkeit war ein Monat vergangen. Es war der erste Juni, Daniels elfter Geburtstag. Ein sonniger Tag. Draußen war es friedlich. Die Vögel sangen, doch seine Mutter konnte die Schönheit nicht genießen. Sie stand in der Küche. Statt einen Geburtstagskuchen zu backen und eine Party zu organisieren bastelte sie ein Grabgesteck für ihren kleinen Jungen. Das wollten sie später, wenn alle zu Hause waren, gemeinsam zum Friedhof bringen. Susan war mit ihrem Vater unterwegs, um sich von ihrer Trauer abzulenken. Tannennadeln stachen ihre Finger. Tränen benetzren den Efeu. "Alles Gute zum Geburtstag, Daniel," flüsterte Mrs. Craw, als sie das fertige Gesteck betrachtete.

Daniel stand hinter ihr. Er war noch immer unsichtbar, aber er hatte sich in der Zwischenzeit Unterstützung von anderen Geistern geholt. Einer von ihnen hatte ihm verraten, dass es eine spezielle Meditationstechnik gäbe, mit der Geister sichtbar und fest werden konnten. Aber er hatte ihn gewarnt: Die Technik war sehr schwer zu erlernen. Nur die wenigsten schafften sie. Daniel ließ sich davon jedoch nicht abhalten. Er übte jeden Tag verbissen, in jeder freien Minute. So auch in diesem Moment. Er nahm all seine Kraft und seine Konzentration und meditierte. Und tatsächlich: Es funktionierte. Er wurde sichtbar! Daniel sah mit offenem Mund auf seine Hände. "Mama, kannst Du mich hören?"

Rasch fuhr Mrs. Craw um. "Daniel!" Zunächst konnte sie nur wie angewurzelt stehen bleiben, als sie ihren gerade erst verstorbenen Sohn erblickte. Er war etwas durchsichtig, aber dennoch sehr gut sichtbar. Doch dann veränderte sich ihre Körpersprache. Sie rannte auf Daniel zu und umarmte ihn. Daniel schoss ihr so fest in die Arme, dass sie nach hinten taumelte. Beide waren so überwältigt, dass Mrs. Craw ihren Jungen wie ein kleines Kind in die Luft wirbelte. "Mama ..."

GeisterkindWhere stories live. Discover now