Alptraum

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Langsam richtete Daniel sich auf. Der Boden unter ihm war kalt und nass. Er merkte sofort, dass etwas anders war. Etwas war fürchterlich schiefgegangen. Das spürte er wie eine Art Eingebung, die ihn mit absoluter Gewissheit erfasste. Sein ganzer Körper zitterte. Wenigstens war der Schmerz, den er eben noch in allen Gliedmaßen gespürt hatte, vorbei. 

Daniel stand vorsichtig auf. Als er sich umdrehte, bestätigte sich seine schreckliche Eingebung: Von oben blickte er auf seinen Körper. Seinen eigenen, leblosen Körper. Reflexartig sprang Daniel ein Stück nach hinten. Das rechte Bein war abgewinkelt, das linke lag gerade ausgestreckt auf dem Asphalt. Am rechten Knie hatte er ein großes Loch in seiner hellblauen Lieblings-Jeans. Darunter trat eine Wunde hervor. Daniel ahnte, dass seine Knie zertrümmert sein mussten. So heftig war der Aufprall gewesen. Die Haut wirkte unnatürlich blass. Daniel entdeckte eine Blutspur, die von einer Stelle am Bürgersteigrand bis zu einer tiefen Wunde auf seiner Stirn führte. Bis auf wenige Blessuren sah sein Körper von außen unversehrt aus, aber dieser Schein trügte. "Scheiße!" fluchte er laut, doch keiner der umstehenden Menschen reagierte. Sie interessierten sich alle nur für seinen Körper. Beim Gedanken daran, es vielleicht nie wieder lebend nach Hause zu schaffen, spürte er, wie ihm die Tränen kamen. Das konnte doch gar nicht sein, er war doch erst zehn Jahre alt! Alles, was er in diesem Moment wollte, war seine Mama.

Aus dem Wagen, der Daniel erfasst hatte, sprang hektisch ein Mann. Im Adrenalinrausch rannte er auf Daniels Körper zu. Daniel sah ihn auf sich zukommen. Doch anstatt ihm auszuweichen lief der Mann einfach durch ihn durch. Er kniete sich neben Daniels Körper und suchte mit verschwitzten Händen nach einem Puls. Doch da war nichts, absolut nichts! "Oh nein. Oh nein!" flüsterte er immer wieder. Hastig öffnete er Daniels schwarze Sommerjacke. Er vergaß, daß T-Shirt zu entfernen. Also fanden seine zitternden Hände Platz auf Daniels rotem T-Shirt. Dann begann er sofort damit, Daniels Herz zu massieren. Währenddessen hörte Daniel, wie jemand anders einen Notruf absetzte. Er zitterte und lief auf und ab. Dabei blieb er immer wieder stehen, um die Szene zu beobachten. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Nach wenigen Minuten traf die Polizei am Unfallort ein. Kurz darauf kam auch der Rettungswagen. Daniel beobachtete jetzt alles ganz genau. Eigentlich war er überhaupt nicht gläubig. Aber in diesem Moment wusste er nichts anderes als zu sämtlichen Gottheiten zu beten, die ihm einfielen. Er schmeckte dabei, wie ihm salzige Tränen in den Mund liefen. "Bitte, Gott … Allah … Krishna. Wer auch immer von euch existiert. Lasst mich leben. Ich will wieder zu meiner Mama können!"

Zwei Sanitäterinnen begannen, Daniels Körper zu untersuchen. In England war es ganz normal, dass statt eines Notarztes studierte Rettungsfachkräfte die Versorgung am Unfallort übernahmen. Sie schnitten sein T-Shirt auf. Die eine schien ihm mit einer hellen Taschenlampe nacheinander in beide Augen. "Eine Pupille reagiert. Die andere ist starr und stark erweitert." Ihre Kollegin tastete währenddessen nach Daniels Puls und schüttelte seufzend den Kopf. "Das sieht überhaupt nicht gut aus." Schnell legten sie ihm eine Halskrause an, um ihn vor weiteren Verletzungen zu schützen. Dann führte die eine die Herzmassage fort, während die andere ihn an einen Defibrillator mit integriertem EKG anschloss. Es zeigte nichts als eine flache Linie. Nach einem Blick auf den Bildschirm verzogen die Sanitäterinnen ihre Gesichter noch stärker als zuvor. "Asystolie nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma …" Beide wussten, dass Daniels Chancen minimal waren. Trotzdem wollten sie es versuchen. Sie konnten es nicht zulassen, dass ein Kind stirbt, während sie nichts taten. Daniel sah ihnen zitternd zu. Er konnte zwar spüren, dass es zu spät war. Aber noch fühlte er auch einen kleinen Funken Hoffnung in sich.

Sie kämpften eine Stunde lang. Deutlich länger als das Protokoll es ihnen vorschrieb. Mittlerweile war noch ein zweiter Rettungswagen mit zwei weiteren Sanitäterinnen zur Verstärkung gekommen. Die Arme der Frau, die in diesem Moment die Herzmassage ausführte, brannten. Zu zweit hätten sie schon viel früher aufgeben müssen. Eine der Sanitäterinnen
leuchtete ihm noch einmal in die Augen. Auch seine andere Pupille blieb dieses Mal starr und weit. Das EKG zeigte immernoch die gefürchtete Nulllinie. Zur Bestätigung tastete sie noch ein letztes Mal nach Daniels Puls. Die junge Frau sah ihre Kolleginnen an und schüttelte langsam den Kopf.
Eine ihrer Kolleginnen sah bedrückt auf eine kleine Uhr. "Zeitpunkt des Todes: 1:37 Uhr nachmittags," teilte sie leise und mit gesenktem Blick mit.

Daniel riss die Augen auf. Dann stieß er einen markerschütternd verzweifelten Schrei aus, den niemand hörte. Er sank auf dem Boden zusammen. Tränen fielen bis auf den Untergrund vor ihm. Seine Welt schien in tausend Teile zerschlagen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand gleichzeitig in den Magen getreten und die Luft abgeschnürt. Tausend Fragen schossen ihm auf einmal durch den Kopf. Wie sollte es denn jetzt weitergehen? Was, wenn seine Familie ihn nie wieder sehen können würde - würden sie ohne ihn überhaupt zurechtkommen? Wieso ließ Gott es überhaupt zu, dass ein kleines Kind wie er starb? Steif vor Panik umklammerte er seine Beine. Er dachte auch an seine Freunde und die Schule und den Musikunterricht und den Tanzvereien. Sollte das alles wirklich für immer vorbei sein? Das unerträgliche Chaos im Kopf ließ Daniel noch einmal schreien.

Die Polizei hatte bereits mit den Ermittlungen begonnen. Sie waren gerade dabei, den Fahrer zu befragen. Wenigstens zeigte er sich kooperativ. Seine enormen Schuldgefühle sorgten dafür, dass er sofort zugab, viel zu schnell und zu unachtsam gefahren zu sein: Fast das Dreifache der erlaubten Geschwindigkeit. Auch er zitterte noch immer am ganzen Körper. Trotz all seiner Wut und seiner Verzweiflung hatte Daniel auch Mitgefühl mit dem Mann. Schließlich würde er jetzt mit einer schweren Schuld leben müssen.

Durch seine Tränen beobachtete Daniel die Arbeit der Sanitäterinnen weiter. Zur Beatmung hatten sie ihm einen langen Schlauch in den Hals geschoben. Dieser hing jetzt nutzlos aus seinem Mund, bis eine der Frauen ihn langsam zog. Auch ihre restlichen Geräte und eine Kanüle in seinem linken Arm entfernten sie. Dann bedeckten sie Daniels Körper traurig mit einem weißen Tuch. In diesem Moment traf Daniel die Endgültigkeit der Situation wie ein heftiger Schlag ins Gesicht: Nichts würde jemals wieder so sein wie vorher. Er war tot. Für immer.

Daniel blieb noch, bis der Leichenwagen eintraf und seinen Körper abholte. Dann sprang er auf und rannte nach Hause. Er wollte unbedingt noch vor der Polizei bei seiner Mutter sein. Auch, wenn er für sie unsichtbar war: Das sollte sie auf keinen Fall alleine durchmachen müssen.

Als Daniel zu Hause eintraf, sah er seine Mutter schon durchs Fenster. Er stand vor der Tür und versuchte, sie zu öffnen. Doch seine Hand glitt einfach durch die Klinke. Also schritt er durch die geschlossene Tür hindurch bis zum Flur, in dem seine Mutter auf und ab lief. Sie sah immer und immer wieder auf die Uhr. Bis zwei Polizistinnen kamen und ihr die Worte sagten, die keine Mutter jemals hören wollte. Tränen benetzten Mrs. Craws Wangen. Dass er hilflos zusehen musste, obwohl er doch da war, ließ Daniels Herz zerspringen. Der Anblick entfachte ein Feuer in ihm: So durfte es auf keinen Fall bleiben. Er würde herausfinden, wie er sichtbar werden konnte. Und wenn es bis zum jüngsten Tag dauern würde.

GeisterkindWhere stories live. Discover now