Neue Welt

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Es war der 08. Juni 2002. Ein warmer Tag im Frühling. Vor einer Woche hatte Daniel es zum ersten Mal seit seinem Tod im Mai desselben Jahres geschafft, sich seiner Familie zu zeigen. Nun saß er in seinem Zimmer im ersten Stock. Neben ihm saß seine zwölf Jahre alte Schwester Susan. Abwechselnd spielten die beiden Spiele auf einem Game Boy Advance, bis die Batterien irgendwann leer wurden. Susan verzog das Gesicht. Sie hätte gerne noch weiter gespielt. "Ach schade."

Daniel dachte kurz nach. Dann stand er auf und zog ein Buch über Geister aus dem Bücherregal, das in seinem Zimmer stand. Er blätterte einen Moment lang darin. "Ha! Wusst ich's doch!" meinte er dann laut und las eine Passage vor. "'Geister erzeugen elektromagnetische Felder. Dadurch können sie die elektrische Energie in ihrem Umfeld beeinflussen. Bisweilen gelingt es ihnen sogar, elektrischen Geräten Strom zu spenden.' Soll ich das mal versuchen?"
Susan nickte.
Daniel starrte eine Weile mit ernstem Gesicht auf den Game Boy. Seine Schwester sah ihm dabei genau zu. Wie genau das funktionieren sollte, wusste er noch nicht. Aber er versuchte es trotzdem. Er stellte sich vor, dass der Game Boy Strom haben würde. Und tatsächlich: Nach einigen Versuchen ging das kleine Gerät an!
Susan saß mit weit geöffnetem Mund da. "Das gibt's ja nicht. Cool!"

Und so spielten die beiden noch lange weiter. Bis Daniel plötzlich mitten durch den Stuhl fiel, auf dem er saß. Bevor er auch noch durch den Boden fiel, hatte er sich aber wieder materialisiert. Der Bildschirm des Game Boys wurde währenddessen schwarz. Daniel rieb sich die schmerzenden Ellenbogen und stand auf. "Was zur Hölle war das denn?"
Susan las in dem Buch weiter. "'Das kostet sie selbst jedoch Energie. Der Energieverlust kann dazu führen, dass sie sich kurzzeitig dematerialisieren.'"

Susan legte die Konsole weg. Dann sah sie zu ihrem Bruder. "Sag mal, Danny. Kannst Du jetzt eigentlich auch richtig durch Wände gehen? So wie in den ganzen Geschichten immer?" 
Daniel nickte. "Ja, kann ich." Er schwebte direkt vor eine Wand. Dass er schwebte, war dabei kaum zu erkennen. Er war nur einige Millimeter vom Boden abgehoben. Es dauerte beinahe zwei Minuten, bis er sich ausreichend dematerialisiert hatte. Er wusste mittlerweile aber, dass es mit Übung irgendwann deutlich schneller gehen würde. Dann glitt er direkt durch die Wand hindurch in den Nebenraum, als wäre sie nichts als Luft. 
Susan starrte ihn dabei regelrecht an. Es wirkte auf sie fast so, als würde die Wand für ihren Bruder gar nicht existieren. "Wow."

Daniel kam auf dieselbe Weise wieder zurück in sein Zimmer. Er wollte auf dem Boden neben seiner Schwester landen, vergaß aber, sich vorher ausreichend zu materialisieren. Deshalb fiel er direkt durch den Boden hindurch und landete vor den erschrockenen und überraschten Augen seiner Eltern im Wohnzimmer. Mr. und Mrs. Craw sprangen auf und liefen zu ihm. "Hast Du Dich verletzt?" 
Daniel rieb sich den pochenden Hinterkopf und sah mit einem Lächeln, das etwas peinlich berührt wirkte, zu den beiden hinauf. "Die Schwerkraft funktioniert noch. Hab ich gerade für euch ausprobiert."
"Alles in Ordnung bei Dir?" rief Susan von oben herab.
"Mir geht's gut," antwortete Daniel ihr. Mittlerweile hatte er es geschafft, wieder fest genug zu werden. Also stand er vorsichtig auf. Die Knochen schmerzten ihm vom Sturz. Als Geist konnte er sich zwar nicht verletzen, aber Schmerzen spürte er dennoch. Er war froh, dass sich der Keller nicht unterm Wohnzimmer befand. Dann ging er zurück auf sein Zimmer.

Susan musste nun doch etwas lachen. "Na das war ja mal ein stürmischer Abgang."
Daniel schüttelte den Kopf lächelte zurück. "Jaja. Lass uns weiterreden, wenn Du ein Geist bist. Mal sehen, wie Du dann so zurechtkommst."
"Kannst Du auch Dinge bewegen, ohne sie anzufassen? Die Geister in den Geschichten können das auch immer," fragte Susan weiter. Ihr kamen so viele Fragen in den Kopf, dass sie gar nicht wusste, mit welcher sie anfangen sollte.
"Meinst Du Telekinese? Weiß ich ehrlich gesagt nicht. Das hab ich noch gar nicht ausprobiert," gab Daniel zu. Die Frage seiner Schwester hatte jedoch seine Neugier geweckt. Also wollte er es ausprobieren. Er sah konzentriert auf eine Vase, die in seinem Zimmer stand. Dabei stellte er sich vor, wie sie anfing zu schweben. Zunächst tat sich nichts. Daniel wollte es schon aufgeben. Doch dann, nach einigen Versuchen, hob die Vase tatsächlich ab. Daniel ließ sie eine Weile durchs Zimmer schweben, bis er sie an anderer Stelle wieder absetzte.

"Und was ist mit fliegen?" fragte Susan weiter. "Das wäre richtig cool."
Daniel nickte. "Das kann ich." Er hob ab und flog bis fast unter die Decke seines Zimmers.
Susan lächelte. "Dann weiß ich ja jetzt, wer mir immer die Sachen aus den hohen Regalen im Supermarkt holen kann."
Daniel lächelte zurück. "Dazu musst Du mich erst mal dazu bewegen, überhaupt mit Dir zusammen einzukaufen."

Jetzt ging es bei Susan erst richtig los. "Wollen wir mal Mama und Papa fragen, ob wir alle zusammen rausgehen können? Ich bin gespannt, wie die Leute auf Dich reagieren." 
Daniel war einverstanden. Seit er sich zum ersten Mal gezeigt hatte, war er im Haus geblieben. Er fand die Frage interessant, aber die möglichen Reaktionen der Leute bereiteten ihm Magenschmerzen. Immerhin wusste er, dass Geister keinen besonders guten Ruf besaßen. Dazu hatte er auch mit seinen elf Jahren schon genügend Horrorfilme gesehen, wovon seine Eltern zwar nicht begeistert waren. Aber nachdem sie gemerkt hatten, dass die Filme Daniel kaum Angst machten, ließen sie ihn gewähren.
Daniels Eltern waren mit der Idee einverstanden. Also zogen sie sich an und gingen gemeinsam nach draußen. Auf manchen Straßen von Darktown war gerade ein kleines Straßenfest. Es fand immer um diese Jahreszeit statt. Dort gingen die Craws hin. Wenn schon, dann wollte Daniel es gleich richtig machen. 

Auf dem Fest war viel los. Die Craws mischten sich unter die Menge. Noch hatte niemand Daniel bemerkt. Er begann, auf und ab zu laufen. Dass er ein Geist war, konnte er schließlich nicht verstecken. Man sah es ihm dank seines leicht durchsichtigen Aussehens an. Außerdem hatte mittlerweile sowieso das ganze Dorf von seinem Unfall gehört. 

Von Weitem sah Daniel seine alte Lehrerin an einem Stand mit Kuchen. Trotz weicher Knie entschloss er sich, sie zu begrüßen. Er war gespannt und ängstlich zugleich, wie sie auf ihn reagieren würde. Also ging er auf sie zu. "Hallo Ms. Jones..," grüßte er leise.
Ms. Jones zuckte zusammen und fuhr erschrocken zu ihm um. Als sie ihren verstorbenen Schüler sah, dachte sie, sie hätte Halluzinationen. "Daniel?!" 
Daniel lächelte schüchtern.
Ms. Jones konnte ihren Augen immer noch nicht glauben. "Ich muss wohl dringend zum Arzt."
"Müssen Sie nicht, er ist echt," beruhigte Mrs. Craw, die Daniel gefolgt war, sie.
Ms. Jones starrte Mrs. Craw an. "Sie können ihn auch sehen?" 
Mrs. Craw nickte.
Ms. Jones war immer noch nicht vollkommen überzeugt. Aber immerhin war England wohl doch nicht umsonst als das Land mit den meisten Geistern bekannt. 

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⏰ Last updated: Jun 17, 2022 ⏰

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