Blumen

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,, Und wüsstens die Blumen, die kleinen,
Wie tief verwundet mein Herz,
Sie würden mit mir weinen
zu heilen meinen Schmerz."
- Heinrich Heine

Die Chysantheme schloss sich kaum merklich im Licht der untergehenden Sonne. Ihre letzten Strahlen ließ die purpurne Farbe der majestätischen Blume noch ein letztes Mal zur Geltung kommen, bevor sie hinter dem Dach der alten Kapelle verschwand.

Diese Blumen waren die schönsten Blumen der Welt. Zumindest für Hayley und nicht zuletzt, weil es typische Friedhofsblumen waren.
Umgeben von Chysanthemen, Nelken, Rosen und Lilien fühlte sie sich einfach am wohlsten.
Vor allem dann, wenn sie so wie jetzt, nachts arbeiten konnte.
Der Wind wehte eine Brise und den Duft des Lavendels herüber, den die Chovingtons am Morgen auf dem Grab ihrer kleinen Tochter gepflanzt hatten.
Eine gute Wahl, fand sie. Diese beruhigende Pflanze war perfekt dazu geeignet, ein kleines Kind zur Ruhe zu betten. Auch wenn es die letzte Ruhe sein würde.

Hayley wusste, dass es jetzt vermutlich für jeden anderen auf diesem Friedhof stockdunkel sein würde. In der Dunkelheit mied jedermann einen Friedhof. Sie hatten zu viel Angst vor Geistern und Gruselgestalten. Es war viel mehr eine Mutprobe.
Diese Menschen waren anders als Hayley. Nicht zuletzt weil es für sie nie dunkel sein würde.

Als Kind dachte sie, es sei vollkommen normal, dass man Dunkeln sehen könnte, auch ohne Mond. Sie sah die Dinge anders als am Tag nicht in einem goldenen, sondern in einem silbrigen Licht. Die Farben veränderten sich leicht, waren aber noch vorhanden.
Erst im Jugendalter bemerkte sie, dass offensichtlich nicht jeder im Dunkeln sehen konnte. Oder viel mehr, dass niemand das konnte.
Sie war eine Ausnahme.
Sie stellte auch fest, dass andere Kinder Angst vor der Dunkelheit hatten, was für sie vollkommen unverständlich war. Sie liebte das unbeobachtete Gefühl, dass die Dunkelheit ihr verlieh.
Für sie war es immer ein samtiges Band gewesen, dass sie umhüllte und liebkoste. Es tröstete sie.

Spätestens als sie mit 16 Jahren nachts die Treppe heruntergestürzt war, wusste sie, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie hatte sich schon vorher verletzt.
In den Finger geschnitten oder sich blaue Flecke oder Prellungen zugezogen. Alles war immer vollkommen normal nach einigen Tagen verheilt.
In jener Nacht rutschte sie jedoch am Ende der Treppe aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte zwölf Stufen in die Tiefe. Als sie unten ankam, war sie sich sicher, dass sie sich das Bein gebrochen hatte. So einen Schmerz hatte sie noch nie zuvor verspürt.
Doch in dem Moment war etwas anders. Ein unbändigender Instinkt sagte ihr, sie sollte sich die Dunkelheit zu nutzen machen. Das tat sie.
Sie verstand erst viel später, wie sie mit der Dunkelheit Verletzungen heilen konnte.

Die Rufe von vorbeigehenden Betrunkenen ließen sie wieder zurück in die Realität kommen.
Im silbrigen Licht begann Hayley, die Beete zu jähten. Sie liebte es, wie sich die kalte Erde auf ihrer Haut anfühlte.
Dabei begann sie, ein Lied zu summen, das sie sich für diesen Tag herausgesucht hatte. Sie konnte ganze Opern rezitieren, doch heute hatte sie sich für ein altes Kinderlied entschieden. Sie hatte es zur Ehren von Louise Covington ausgewählt.
Sie stellte sich immer vor, dass ihre Lieder den Toten halfen, zur Ruhe zu kommen.
Bald summte sie nicht mehr nur, sondern trällerte leise vor sich hin.
Ihre Stimme wurde von dem Wind über die Gräber getragen.
Ihre Stimme glich der eines Engels und war so klar wie Kristall. Doch nach jenem verhängnisvollen Tag würde sie nie wieder vor Menschen singen. Nie wieder. Sie hatte es ohnehin nicht gemocht. Aber sie liebte das Singen zu sehr, als dass sie damit aufhören könnte.
Hier während der Arbeit auf dem nächtlichen Friedhof konnte niemand ihre Stimme hören, außer den Toten, den Blumen und den Tieren. So erwies sie ihnen die letzte Ehre, während sie für die Familien die Gräber herrichtete.

Hayley wusste nicht, dass sie nicht allein war.
Sie wusste auch nicht, dass der Mann, der sie beobachtete, ebenfalls in der Nacht sehen konnte und gerade aus der Dunkelheit aufgetaucht war.
Er war groß, aber gut gebaut. Mit seinem schwarzen Anzug und den schwarzen Haaren wäre er mit der Dunkelheit verschmolzen, wäre nicht seine blasse Haut gewesen. Er stand am Rand der kleinen Kapelle.
Hayley hätte ihn gesehen, wenn sie aufgeblickt hätte. Doch das tat sie nicht.

TotensängerinWhere stories live. Discover now