Kapitel 3

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Kaily

Meine Pflegemutter war nicht sauer gewesen, als ich noch mit dem Essen beschäftigt war, als sie von der Arbeit kam. Stattdessen half sie mir.
Es war eines der Dinge, die ich an ihr mochte.

Gabrielle war für mich wie eine Tante. Sie hatte mich vor fünf Jahren aus dem Heim geholt und seitdem lebte ich mit ihr, ihrem Mann Marc und deren Sohn Leo zusammen. Er war zehn Jahre jünger als ich und etwas, was ich am ehesten als Bruder bezeichnen würde.

Heute war ich früher aufgewacht als sonst, was dazu führte, dass ich eine Viertelstunde zu früh bei der Schule aufkreuzte. Es machte mir nichts aus. Ich setzte mich in meine Ecke.

Heute hatte ich zum ersten Mal diesen Herbst einen Pullover an. Es war mein Lieblingspulli. Grau und mit Kapuze. Einfach, schlicht und er verdeckte alles, was es zu verdecken gab. Ich sah aus wie ein ganz normales Mädchen mit einem ganz normalen Leben.

Dass es in Wirklichkeit ganz anders war, hatte mir mein Bein heute Morgen unmissverständlich klar gemacht. Es tat wieder weh. Die Ärzte hatten wir damals im Krankenhaus gesagt, dass ich unverschämtes Glück gehabt hatte und ich mit ein paar Narben davongekommen war. Und einem Bein, bei dem Nerven verletzt wurden, die nie wieder vollständig heilen würden, weshalb es manchmal vorkam, dass es ein paar Tage schmerzte.

Dann halfen auch Medikamente nicht, ich musste abwarten, bis ich über den Berg war. Es lief immer gleich ab.
Am ersten Tag war es mehr ein Ziepen, als wirklicher Schmerz.
Am zweiten Tag fühlte es sich an wie ziemlich übler Muskelkater und am dritten Tag dachte ich immer, mein Bein würde abfallen.
Erst ab dem vierten Tag wurde es wieder besser.

Ich lenkte mich ab, indem ich völlig in die Welt meines Buches abtauchte. Kein Schmerz. Kein Tod. Kein Leben. Nur eine andere Person, in dessen Haut ich schlüpfen konnte.

Auf einmal spürte ich ein Kribbeln in meinen Händen. Was war denn jetzt los? Waren sie eingeschlafen? Ich sah hoch und blickte direkt in die Augen von Derek, der mit seiner Clique gerade den Schulhof betrat. Mittlerweile waren es nur noch vier Minuten bis zum Schulbeginn.

Schnell starrte ich wieder auf mein Buch. Keine Aufmerksamkeit erregen, lautete meine Devise.
Und sie versagte auf ganzer Linie, als Derek keine Minute später vor mir stand. Was wollte er denn jetzt auf einmal von mir?

"Hey. Was liest du denn da?", fragte er mich plötzlich. Mein ganzer Körper stand unter Strom und ich konnte gar nicht anders, als stumm auf mein Buch zu blicken. Denn hätte ich hochgeschaut, gäbe es nichts mehr, das mich davon abhielt, irgendetwas Dummes zu tun.

"Ich hab dich was gefragt", hakte er nach. Konnte er nicht einfach wieder gehen? Nein, konnte er nicht, wie sich herausstellte. Seine Hand griff zielsicher zu meinem Buch und er schnappte es sich.

"Göttlich verliebt", las er den Titel vor. Oh, Boden tu dich auf und verschling mich mit Haut und Haar, betete ich stumm. Natürlich hörte der Boden, dieser Verräter, nicht auf mich.

Derek grinste wie ein Honigkuchenpferd. Ich hatte mich dazu entschlossen, aufzustehen und ihn endlich anzuschauen. Der Boden war nicht länger mein Freund.

"Wie heißt du?", fragte Derek mich dann und gab mir mein Buch zurück, das ich schnell an meine Brust presste. Warum interessierte ihn das?
"Kaily", antwortete ich trotzdem und hielt den Blick auf seine Brust gerichtet. Die war es nämlich, die ich anstarrte, wenn ich geradeaus schaute. Himmel, war der Kerl groß!

"Kaily. Ich bin Derek."
"Ich weiß", rutschte es mir ungefiltert heraus und ich riss erschrocken den Kopf hoch. Dabei fiel mir eine Haarsträhne meines blonden Haars ins Gesicht, die ich schleunigst wieder hinters Ohr steckte.

Derek grinste. Was war so lustig?
"Ich würde dich gerne zu meinem Geburtstag morgen einladen. Wir wollen rein feiern."
Ich glaubte, mich verhört zu haben.
Ich? Auf dem Geburtstag dieses ... dieses ... Ach, keine Ahnung, was er war. Auf jeden Fall Welten von mir entfernt.
Und nun sollte ich auf seinen Geburtstag? Warum?

"Ich ... äh ... Sicher?"
Am liebsten hätte ich mich gegen die Wand geklatscht wegen so einer Aussage.
"Ja, ganz sicher. Also? Kommst du?"
Das Grinsen schien sein Gesicht gar nicht mehr verlassen zu wollen.

Um diese ganze Situation nicht noch peinlicher zu machen, nickte ich.
Und es schien, als würde ihm eine ganze Zentnerladung Steine vom Herzen fallen.

"Okay, sehr gut. Also, wir treffen uns alle um einundzwanzig Uhr bei mir Zuhause. Wenn du die Waldstraße immer geradeaus fährst, kannst du es gar nicht verfehlen. Dann bis morgen!"
Bevor ich noch etwas erwidern konnte, drehte er sich um und rannte davon. Zwanzig Meter weiter wurde er von seinen Kumpanen in Empfang genommen, die ihm auf die Schulter klopften.

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. War das gerade wirklich passiert? Hatte Derek Cerse mich zu sich eingeladen?
Komm mal wieder runter!, sagte ich mir. Es ist eine Geburtstagsfeier! Vermutlich hat er den ganzen weiblichen Anteil der Schule eingeladen.
Zähneknirschend musste ich mir recht geben.

Der Schultag ging schnell vorbei und mein Bein fing nur langsam an zu schmerzen.

Als ich am Abend in meinem Bett lag und einschlief, träumte ich zum ersten Mal seit sechs Jahren von anderen Augen. Keine blauen Augen starrten mich an, nein, es waren moosgrüne. Es waren Dereks Augen.

Falling like rainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt