Kapitel 4

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Derek

Ich saß schon den ganzen Tag wie auf glühenden Kohlen. Sie würde heute Abend zu mir kommen!
In meinem Kopf herrschte Chaos.
Warum hatte ich meine Mate vor meinem siebzehnten Geburtstag erkannt? So etwas dürfte gar nicht möglich sein. Und doch war es geschehen.

Als es endlich nach der letzten Stunde klingelte, sprang ich auf und riss Ryan, der neben mir saß, fast mit.
"Hey! Immer langsam mit den jungen Pfer- Wölfen!", lachte er.
"Mach schon!", drängte ich ihn, damit er endlich seine Sachen zusammenpackte. Er war einer von diesen Freunden, die ewig brauchten, um nach dem Unterricht ihre Tasche zu packen.

"Bin ja schon fertig."
Zusammen hetzten wir den Gang entlang. Na ja, ich hetzte, Ryan stolperte hinterher.
Auf dem Weg nach draußen sammelten wir Leni, Nic und Aarlon ein, sodass wir auf dem Schulhof wieder vollzählig waren.

Meine Hände kribbelten. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Kaily in der Nähe war. Hektisch sah ich mich um und sah sie schließlich, wie sie vom Schulhof humpelte. Warte, sie humpelte?
Ohne darüber nachzudenken, rannte ich quer über den Hof zu ihr und tippte ihr auf die Schulter.

Erschrocken fuhr sie herum.
Ich hob entwarnend die Hände.
"Alles gut, ich bin's nur."
Sie schwieg, also redete ich weiter.
"Warum humpelst du? Hast du dir wehgetan? Brauchst du Hilfe?"

Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Vor allem Unglaube erkannte ich, aber auch Nervosität. Und dann war da noch etwas, das aussah wie Schmerz. Seelischer Schmerz.
Sofort kam ich mir wie der letzte Depp vor. Ich hatte ihr wehgetan. Scheiße.

"Alles in Ordnung?", fragte ich weiter.
Ich wollte, nein, ich musste wissen, was mit ihr los war. Es war meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass es ihr gut ging. Meine selbst auferlegte Pflicht.

Kaily nickte nur kurz, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Ich sah ihr an, dass sie versuchte, ihr linkes Bein zu schonen, ohne dass ich es mitbekam.
So sollte es nicht sein. Ich sollte für sie da sein, wenn sie Schmerzen hatte. Bei mir sollte sie nicht versuchen stark zu sein, wenn es ihr nicht gut ging.

"Hey, Kaily!", rief ich ihr kurzentschlossen hinterher. "Soll ich dich nach Hause bringen? Dir tut ganz offensichtlich dein Bein weh. Lass mich dir helfen."
Sie hielt an und drehte sich zu mir.
"Nein. Ich komme schon nach Hause."
"Wirklich? Es wäre unverantwortlich, dich mit Schmerzen gehen zu lassen. Und außerdem würde ich mich freuen, wenn du meine Hilfe annimmst."

Sie überlegte. Ich sah förmlich, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten. Ihrem sehr hübschen Kopf.
"Also gut", meinte sie schließlich resigniert.
Jackpot, Dex!, applaudierte Forrest und wäre er nicht in meinem Kopf, würde er jetzt garantiert einen Stepptanz aufführen. Forrest liebte Stepptänze. Ich ... eher weniger. Okay, gar nicht.

"Kommst du mit? Mein Auto steht hinten."
Sie nickte und lief neben mir her. Unter normalen Umständen hätte ich jetzt gegrinst als gäbe es kein Morgen mehr, aber das Gesicht von Kaily war schmerverzerrt, wann immer sie mit Links auftrat.

Ich sah ihr an, wie erleichtert sie war, als sie sich auf den Beifahrersitz meines Autos fallen ließ. Ich setzte mich hinter das Lenkrad und los ging's.
Ihre Adresse hatte sie mir verraten und so wusste ich, wo es langging.

Während der fünf-minütigen Autofahrt starrte sie ununterbrochen nach vorne auf die Straße. Sie wandte den Blick nicht mal dann ab, als ich ihr an einer roten Ampel eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr schob. Was war mit ihr los? Warum saß sie so verkrampft da?

Kaily

Ich konnte nicht anders, als durch die Windschutzscheibe auf die Straße zu schauen. Ich musste Bescheid sagen, falls etwas passierte. Ich durfte nicht noch einmal versagen. Mein Bein, das ununterbrochen schmerzte, war Grund genug.

"Hey, Kaily? Wir sind da."
Ich blinzelte ein paar Mal. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir angehalten hatten.
"Äh, ja. Danke für's Fahren. Ich werde mich irgendwie dafür revanchieren, okay?"
Derek schüttelte den Kopf.
"Du musst nichts machen. Ich hab das gerne gemacht. Soll ich dich noch bis zur Tür bringen?"
"Nein, das geht schon." Irgendwie.

Ich schaffte es tatsächlich, bis zur Haustür zu humpeln, diese aufzuschließen und mich danach drinnen auf den Boden zu legen. "Gabrielle?", rief ich in Richtung der Küche und konnte mein Gesicht nicht länger unter Kontrolle halten. Es verzog sich zu einer Fratze, die mein Innerstes ziemlich gut wiederspiegelte.

"Lilly, was ist denn ... Oh, nein. Das Bein?"
Ich nickte nur. Würde ich sprechen, könnte ich einen Schrei nicht unterdrücken.
"Okay, ich bring dich ins Wohnzimmer", beschloss Gabrielle und hob mich hoch. Ich war beeindruckt, dass das immer noch ging.

Sobald ich auf der Couch lag, schnappte sich Gabrielle - oder Elle, wie ich sie nannte - einen Stuhl und zog ihn an das Sofa. Wann immer ich diese Attacken hatte, ich konnte mich auf Gabrielle verlassen. So wie jedes Mal in den letzten sechs Jahren hielt ich auch jetzt Elles Hand.

"Wer hat dich hergebracht?", fragte sie mich neugierig und wahrscheinlich, um mich abzulenken.
"Nur so ein Junge aus der Schule", meinte ich und zuckte kurz zusammen, als mein Bein sich verkrampfte.
Anzüglich wackelte Elle mit den Augenbrauen.

"So, so. Nur so ein Junge aus der Schule. Hat er auch einen Namen?"
"Ja, er-" Ich hielt inne, da mich der Schmerz zu überwältigen drohte, bevor ich weitersprechen konnte. "Sein Name ist Derek. Seine Freunde nennen ihn, glaube ich, Dex."
Gabrielle gab ihr Bestes, mir nicht zu zeigen, wie sehr sie sich um mich sorgte, doch ich sah es trotzdem. Sanft drückte ich ihre Hand.

"Hey, ist okay. Ich bin das ja gewohnt. Es wird wieder gut, okay? Mach dir keine Sorgen."
Sie lachte auf. "Klar doch. Meinem Lieblingsmädchen geht es schlecht und ich soll mir keine Sorgen machen. Ich hab noch nie etwas Leichteres gehört." Dann wurde ihr Blick wieder ernst. "Lilly, hör zu. Du bist wie eine Tochter für mich und wenn es dir schlecht geht ist das eines der schrecklichsten Gefühle für mich. Vor allem wenn es wegen deines Beins ist. Ich kann nichts dagegen tun. Und das macht mir Angst."

Ich versuchte mich an einem Lächeln, scheiterte jedoch, weil in dem Moment ein solcher Schmerz durch meinen Oberschenkel zuckte, dass mir kurz schwarz vor Augen wurde.
"Am besten versuchst du etwas zu schlafen, okay? Du sagtest doch mal, wenn du schläfst, ist der Schmerz auszuhalten", meinte Elle und ich hörte ihr an, wie sehr sie sich um mich sorgte.

"Es ist schlimmer als sonst", flüsterte ich in die darauffolgende Stille.
"Wie meinst du das?"
"Es ist erst der zweite Tag, aber mein Bein tut weh wie am dritten. Elle, kann das sein? Kann es schlimmer werden?"
Ich wollte nicht zugeben, dass ich Angst hatte. Ich hatte Angst davor, dass es schlimmer wurde. Angst, dass es immer da sein würde.

Gabrielle schüttelte den Kopf und strich mir die Haare aus der Stirn. "Es kann nicht schlimmer werden, Kaily. Du empfindest es wahrscheinlich nur extremer als sonst."
Ich nickte, obwohl ich genau wusste, dass es nicht der Wahrheit entsprach. Mein Herz wollte, dass es die Wahrheit war. Mein Kopf wusste, dass es eine Lüge war.

Falling like rainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt