9. Challenge: Tagebucheintrag

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Liebes Tagebuch!
Wie dir vielleicht schon aufgefallen ist, habe ich mich eine Zeit lang nicht mehr gemeldet. Wobei, du bist ein Buch, also ist es dir vermutlich nicht aufgefallen. Egal, mein Schweigen hatte jedenfalls einen Grund: Es geht um Lian. Er ist... Nein, ich kann das nicht. Es ist echt traurig, aber ich kann es nicht aussprechen, nicht mal aufschreiben, wie ich gerade feststellen muss. Aber Mum sagt, ich muss es aufschreiben. Und sämtliche Therapeuten sagen es auch. Wenn ich nicht darüber sprechen will, muss ich darüber schreiben. Damit ich das verarbeiten kann, oder irgendwie so. Alles Schwachsinn, wenn du mich fragst. Was soll es schon auslösen, wenn ich ein paar Worte auf Papier bringe? Hm. Also wenn man es so sieht, was ist dann dabei, es einfach aufzuschreiben? Okay, ich mach es jetzt einfach. Ich schreibe es auf. Lian ist von unserem Schiausflug nicht mehr zurückgekehrt. Er ist tot.
Okay, jetzt merke ich, was das Problem ist. Es tut weh, das zu lesen. Und es niedergeschrieben zu sehen, macht es so... endgültig. Und nein, liebes Tagebuch, ich weine nicht!!! Es regnet! Ganz ehrlich! Naja, fast ganz ehrlich halt.

Aber zurück zu Lian. Ich verstehe einfach nicht, wie es so weit kommen konnte. Wobei, vermutlich ist das normal. Vermutlich glaubt man immer, schlimme Dinge können einem nicht passieren, die passieren nur anderen, und dann, zack, überfallen sie einen plötzlich aus dem Hinterhalt. Wie oft bin ich den Tag schon in meine Kopf durchgegangen? Sicher schon tausendmal. Ich habe über alles nachgedacht, was ich getan oder nicht getan, gesagt oder auch nicht gesagt habe. Hätte es etwas geändert, wenn ich anders gehandelt hätte? Würde er dann vielleicht noch leben? Würde er dann hier an meiner Stelle sitzen und sich fragen, was er falsch gemacht hat? Oder würden wir gemeinsam über irgendetwas lachen und keine Ahnung haben, dass so etwas wie der Tod alle holen kann, auch die, die einem am nächsten sind? Vermutlich ist genau das das Problem. Alle sagen doch immer, die, die überleben, haben es am Schwersten. Und, ehrlich, sie haben total recht damit. Wie soll ich je wieder irgendjemandem in die Augen schauen? Alle sagen, es ist nicht meine Schuld, aber stimmt das denn auch wirklich? Ich meine, hätte ich um ein paar Minuten früher gesagt, dass ich mal aufs Klo muss, vielleicht wären wir nie zu der Stelle gekommen, an der es passiert ist. Oder hätte ich nach dem Aufstehen weniger getrödelt, dann wären nicht so viele Leute vor uns beim Lift gewesen, wir hätten uns nicht so lange beim Lift anstellen müssen, und hätten keine Abkürzung genommen und dann-. Wer weiß, was dann passiert wäre? Ich jedenfalls nicht.

Diese ‚Was wäre gewesen wenn Gedanken' helfen mir überhaupt nicht weiter. Im Gegenteil, sie machen alles nur noch schlimmer. Viel schlimmer. Sie geben mir das Gefühl, dass ich vielleicht etwas ändern hätte können. Dass es nicht so enden hätte müssen. Aber was, wenn es so vorherbestimmt war? Von Anfang an? Ich für meinen Teil glaube nicht an Schicksal, aber das muss ja nichts bedeuten. Jeder glaubt doch an etwas anderes, oder? Also woher soll man da wissen, was wahr ist, und was nicht? Es könnte alles davon wahr sein, oder auch gar nichts, und wir würden es vermutlich nie erfahren. Ich denke ja, dieses ganze Glauben ist sowieso nur dazu da, uns Sicherheit zu geben. Aber mit Sicherheit wissen tut man trotzdem nichts. Mein Problem ist gerade nur, dass ich keine Ahnung habe, was ich noch glauben soll. Wie denn auch? Mir wurde gerade der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich weiß nicht mehr wo oben und wo unten ist, was richtig ist und was falsch. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Tja, offensichtlich.

Deshalb sitze ich schon seit Tagen in meinem Zimmer herum und starre Löcher in die Luft. Meine einzige Gesellschaft: der bläulich schimmernde Stein, den mir mein Bruder geschenkt hatte. Früher dachte ich, dass er magisch ist. Früher dachte ich aber auch, dass ich einen Gnom gesehen hätte. Mittlerweile weiß ich, dass die Welt eben nicht so ist. Magisch, meine ich. Magie gibt es nur in Geschichten. Aber um solche Geschichten zu schreiben, muss man schon bis zu einem gewissen Grad daran glauben. Und das tue ich einfach nicht mehr. Wäre die Welt voller Magie, dann könnten solche schrecklichen Dinge doch nicht passieren, oder? Mein Schreibheft verstaubt jedenfalls irgendwo in meinem Bücherregal. Ich habe auch versucht zu lesen, aber sobald etwas auch nur annähernd Trauriges oder Tragisches in den Büchern passiert, kommen mir die Tränen. Wenn es glückliche Kindheitserinnerungen sind, habe ich dasselbe Problem. Kommt ein Berg vor, oder Schnee, Schifahren, oder auch nur irgendeine Erwähnung von Magie, was bei so gut wie allen meinen Büchern der Fall ist, macht mich das fertig. Nicht, dass ich das wollen würde. Im Gegenteil, ich würde mich nur zu gerne in einem Buch vergraben, in die Geschichte eintauchen und mein eigenes Leben für einen Moment vergessen, aber es geht einfach nicht. Dafür sind meine Gedanken viel zu laut. Und noch habe ich den Knopf nicht gefunden, mit dem ich sie abschalten kann. Also habe ich stattdessen meine Bücher umsortiert. Das habe ich in den letzten Tagen mindestens zweimal täglich getan. Es beruhigt einfach. Nebenbei esse ich auch noch Schokopopcorn. Wenn ich nur daran denke, dass mein größtes Problem früher war, dass ich mich mit Lian nicht einigen konnte, ob Schoko oder Popcorn...

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