1. Kapitel

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Was tat man nicht alles für die Familie? Was tat man nicht alles, um jene zu schützen, die man liebte? In meinem Fall war es Tag für Tag die Zähne zusammenzubeißen, den Kopf einzuziehen und die eigenen Wünsche hintanzustellen.

Denn Träume und Wünsche, ja, die hatte ich. Eine eigene kleine Familie - eine, die über meine kleine Schwester hinausging. Eigene Kinder vielleicht. Meinen Prinzen auf dem weißen Pferd.

Leider schien all dies so weit entfernt wie jedes Ende meiner Arbeitstage, wenn ich mich noch müde vom letzten Tag morgens von meinem harten Lager erhob. Wenigstens kam ich nicht ins Grübeln. Mir blieb schlichtweg keine Zeit nachzudenken, und auch jetzt beeilte ich mich, den schweren Korb Wäsche aufzunehmen und die schmale Stiege in den zweiten Stock zu erklimmen, um dort das Bett für den Viscount und seine Frau frisch zu beziehen. Mrs Webster würde schimpfen, wenn die Herrschaften ankämen und noch nicht alles nach ihren Wünschen wäre.

Auf leisen Sohlen huschte ich also durch die Dienstbotentür, nicht ohne vorher sicherzustellen, dass der Flur dahinter leer war. Das war unser oberstes Gebot und meiner Schwester und mir noch vor unserer Anstellung eingetrichtert worden. Ich konnte die strenge Haushälterin hören, als stünde sie neben mir: »Die Herrschaften wünschen Diskretion. Vermeidet es, ihnen aufzufallen und alles ist gut. Höre ich Beschwerden -« Den Rest des Satzes hatte sie in der Luft hängen lassen, allerdings hatte ihr Blick auf meine Schwester vollkommen genügt. Hörte sie Beschwerden, würden wir erneut auf der Straße landen und wären in den schützenden Wänden des Calcott Hauses nicht länger willkommen. Und diese Anstellung zu finden war bereits pures Glück gewesen.

Das Zimmer des Viscounts war wie erwartet leer und ich beeilte mich, die Vorhänge aufzuziehen und die abgestandene Luft aus den Fenstern hinaus auf die Ländereien zu entlassen. Kälte drang herein, trug den Geruch von Schnee mit sich, der sicherlich nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Hier draußen, außerhalb der schmutzigen Straßen Londons, brach der Winter früher an.

Ich riss meinen Blick von den Wiesen und Feldern los und wandte mich mit einem Seufzen meiner Arbeit zu. Die Möbel waren bereits von Staub befreit, der dicke Teppich auf dem Fußboden ausgeklopft. Nur das Bettzeug fehlte noch. Nach wie vor ein wenig ungeschickt - denn die Handgriffe waren mir bei den schweren Decken noch zu fremd - schlug ich das Oberbett über dem Sims aus, ehe ich es bezog. Den Kissen ließ ich die gleiche Behandlung zukommen, strich Falten glatt und besah mir mein Werk mit kritischem Blick. Mrs Webster selbst würde meine Arbeit zwar nicht beurteilen, aber Mrs Beaton, die nächste in der Hierarchie der Dienerschaft, konnte im Zweifel über mein Schicksal entscheiden. Und wenn ich eins in den wenigen Wochen, die ich jetzt hier arbeitete, über die oberste Hausdame gelernt hatte, dann wie perfektionistisch sie war. Der kleine Edward Davis hatte schon für einen harmlosen Fleck auf den frisch polierten Schuhen der Lady sein Frühstück verwehrt bekommen. Niemand hatte es gewagt, ihm etwas abzugeben.

Ich zupfte eine verirrte Feder vom Bett, kniff die Augen noch ein letztes Mal zusammen und befand, dass Mrs Beaton sicherlich nichts auszusetzen haben würde.

Ebenso leise wie zuvor huschte ich kurz darauf mit meinem nun leeren Wäschekorb den Flur hinunter und durch die unscheinbare Tür zurück in das Treppenhaus, das nur für uns Angestellte bestimmt war. Der Luftzug meines Rocks brachte die kleine Flamme der Kerze in der Halterung an der Wand zum Flackern und hastig hielt ich eine Hand davor, um sie vor dem Erlöschen zu retten. Ohne sie wäre es auf der Stiege finster wie zur Geisterstunde, wenn der Mond von Wolken verdeckt am Himmel stand. Und der Dunkelheit war ich nie besonders zugeneigt gewesen.

Vermutlich wäre ich in jener auch kurz darauf zu Tode erschrocken. Ein Rumpeln, dann wurde einige Stufen über mir eine Tür aufgerissen und das Licht aus dem Raum dahinter beleuchtete für den Bruchteil einer Sekunde eine Gestalt. Ich konnte einen leisen Schrei nicht verhindern, mit dem meine Hand ans Herz flog. Wer auch immer es war, trug einen Mantel und hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Kurz überlegte ich noch, ob es sich um einen der Kammerdiener handeln könnte, die ich nur alle Jubeljahre einmal sah.

Christrosenküsse [Leseprobe]Where stories live. Discover now