4. Kapitel

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Ich hätte auf meinen Körper hören sollen, dachte ich, als ich am nächsten Morgen mit müden Augen den oberen Flur wischte. Natürlich bereute ich es, dass Betty mir gestern noch bis spät in die Nacht das Haar gebürstet hatte. Das hieß, wirklich von Reue konnte nicht die Rede sein, dennoch wünschte ich mir, die paar Minuten lieber für Schlaf genutzt zu haben.

Mein Kopf pochte wild und hielt das muntere Geplauder von Peggy kaum aus, die mir meine ablehnende Reaktion auf ihren Kommentar zu Betty nicht länger übel zu nehmen schien. Ihr Plappern erinnerte an das Rauschen des kleinen Bachs, der mitten durch das Dorf führte, in dem ich aufgewachsen war. Wort für Wort hüpfte Wassertropfen gleich von Thema zu Thema, die in meiner Vorstellung die Steine darstellten. Sie erzählte mir von Rick, der eigentlich Frederick hieß. In ihren Augen war er ein Schwerenöter, vor dem kein Rock sicher war. Diese Schlussfolgerung zog sie daraus, dass er ihr neulich beim Tragen eines schweren Wasserbottichs geholfen hatte und ihr Danke lediglich mit einem Nicken quittiert hatte.

»Glaub mir«, sagte sie, während sie den Lappen auswrang, mit dem sie gerade das Geländer des Treppenabsatzes reinigte. Sie sah mich dabei mit gewichtiger Miene an. »Ich kenne die Männer. Sie lügen, wenn sie behaupten, dass sie keine Gegenleistung erwarten. Immer.« Auf diese Warnung vor dem Diener folgte eine Reihe weiterer Anekdoten, von denen ich einige für schlichtweg erstunken und erlogen hielt. Denn mir eine Mrs Johnson, die Köchin des Anwesens, trunken vor Vernarrtheit in der Küche vorzustellen, wie sie eine versalzene Suppe nach der anderen ins Speisezimmer schickte, was sich über mehrere Wochen gezogen haben soll, fiel mir beileibe schwer. Über so lange Zeit hätte es sie ihre Stellung gekostet.

Als Peggy schließlich verstummte, hatte ich bereits eine ganze Weile weggehört, weshalb es mir zuerst überhaupt nicht auffiel. Wir waren an der Treppe angelangt, und ich bückte mich gerade, um den Bereich hinter der opulenten Vase zu erreichen. Erst da bemerkte ich die plötzlich eingetretene Stille.

Ich schluckte. »Peggy?« Es kam lediglich als Krächzen heraus. Dutzende Szenarien liefen wie ein Theaterstück vor meinen Augen ab, eins schlimmer als das andere. Denn ich hatte es bisher noch nie geschafft, das Hausmädchen mit Stummheit zu schlagen. Egal, was ich ausprobiert hatte. Ganz oben auf meiner Liste an Albträumen stand ein weiteres Zusammentreffen mit dem Viscount und seinem Bruder. Weil ich mich offensichtlich noch nicht genug blamiert hatte. Mit meinem Allerwertesten hoch in der Luft am Boden hockend, müsste ich den Knicks gar nicht erst versuchen.

»Flo!« O nein. Das war nicht der warme Bariton. Ich kannte die strenge Stimme, wenngleich ich die Frau, zu der sie gehörte, seit jenem Tag in den Straßen Londons nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Was ich für ein gutes Zeichen erachtet hatte. Immerhin hieß es, dass ich mein hochtrabendes Versprechen, ihren Ansprüchen zu genügen, bislang erfüllte.

Ich korrigierte: Erfüllt hatte.

Als ich mich aufrichtete, stand die Haushälterin vor mir. Sichtlich aufgewühlt. Ihr Häubchen war verrutscht, das Tuch um ihren Hals ebenfalls. Zudem standen ihr hektische rote Flecken im Gesicht.

Meine Gedanken begannen fieberhaft zu rasen, während ich eilig in einem Knicks versank und den Moment dazu nutzte, um mir die feuchten Finger an meinem Rock abzuwischen. Sie sah zornig aus, und da sie Margaret vollkommen links liegen ließ und mich aus ihren blauen Augen in Grund und Boden starrte, war die logische Konsequenz, dass ich der Quell ihres Ärgers war. Nur leider war ich mir keiner Schuld bewusst.

Es sei denn –

So schnell wie er gekommen war, verbannte ich den Einfall wieder. In mir sträubte sich etwas gegen die Befürchtung, die beiden Adligen könnten sich über mich beschwert haben. Denn eigentlich hatte ich gehofft, ihre milde Art, mich zurück an die Arbeit zu schicken, bedeutete, sie maßen meinem Fauxpas keine zu große Bedeutung bei.

»Mitkommen!« Bei Mrs Websters schneidendem Tonfall krampfte sich alles in mir zusammen. Ich fühlte mich wie auf dem Gang zum Schafott, als ich mit hängenden Schultern den Lappen in den Holzbottich legte und mich an die Fersen der Haushälterin heftete. Der fragende und gleichzeitig mitleidige Blick, den Peggy mir schenkte, machte es nicht besser.

Erst recht, weil mir siedend heiß der Wäschekorb einfiel, den ich im Eingang zur Dienstbotentreppe in der Bibliothek zurückgelassen hatte. Ihn hatte ich vollkommen vergessen. »Wenn es um –«, versuchte ich es anzusprechen, brach jedoch ab, weil Mrs Webster ein ungehaltenes Zischen ausstieß.

»Schweig still.«

Ein Schlag ins Gesicht hätte keine bessere Wirkung auf mich haben können. Mühsam kämpfte ich gegen die aufsteigenden Tränen an und wischte mir vorsichtshalber mit der einen Hand, die ich nicht nutzte, um meine Röcke hochzuhalten, unter den Augen entlang, ehe ich mir in die kribbelnde Nasenwurzel kniff.

Meine Vorgesetzte blieb mir immer ein Stückchen voraus, als sie sehr zu meiner Verwunderung nicht den Weg nach unten zu ihren Räumlichkeiten einschlug, sondern die Treppe weiter nach oben nahm. Der Schlüsselbund an ihrem Gürtel klimperte bei jedem ihrer Schritte, die sie für ihr Alter erstaunlich behände vorwärts trugen. Ich hatte Mühe, nicht den Anschluss zu verlieren.

Je weiter wir kamen, umso mehr dämmerte mir, dass dies ein noch schlechteres Zeichen für mich sein konnte, als wenn sie mich mit in ihr Arbeitszimmer genommen hätte. Würde sie mich womöglich ohne Erklärung auf die Straße setzen und führte mich deshalb jetzt auf direktem Wege ins Dachgeschoss, damit ich meine wenigen Habseligkeiten zusammenraffen konnte? Am liebsten hätte ich danach gefragt, allerdings wollte ich auch keine schlafenden Hunde wecken. Lizzy hatte einmal gesagt, mit einer wütenden Mrs Webster sei fast noch weniger gut Kirschen zu essen als mit Mrs Beaton. Nun, gegenwärtig war ich gewillt, dieser Einschätzung aus vollem Herzen zuzustimmen.

»Du schweigst, solange man nicht direkt das Wort an dich richtet!« Mit diesen Worten blieb die Haushälterin so abrupt vor einer Tür stehen, dass ich beinahe in sie hineinrannte. Mein Atem ging hektisch. Ich hatte den Eindruck, nicht genug Luft zu bekommen und versuchte, durch die Lagen aus Stoff einen Finger unter mein Korsett zu schieben. Als könnte es mir oder meinem panisch trommelnden Herzen Erleichterung schaffen, wenn ich die Schnüre nur etwas auseinandergezogen bekäme.

Ich biss die Zähne aufeinander, um zu verhindern, dass mir die Frage nach dem Warum entkam. Stirnrunzelnd sah ich zu der mächtigen Holztür, von der ich sehr zu meinem Leidwesen nicht die geringste Ahnung hatte, was mich dahinter erwarten würde. Wir hatten den offiziellen Weg genommen. Die Flure, die wir normalerweise mieden, es sei denn, wir hatten einen direkten Auftrag in ihnen zu erfüllen. Wie beispielsweise Peggy und ich an diesem Morgen.

Mrs Webster gefiel mein Schweigen nicht. »Hast du mich verstanden?«, fragte sie scharf und am liebsten wäre ich einen Schritt vor ihr zurückgewichen. »Du knickst, sobald wir den Raum betreten, und wartest, bis man dich direkt adressiert. Nur Gott weiß, wieso der Earl dich überhaupt in dieser Angelegenheit hören will.« Letzteres klang eher, als wäre es nur für sie selbst bestimmt.

Allerdings ließ sie mir keine Gelegenheit für weitere Grübeleien, sondern kündigte mit einem harschen Klopfen unsere Ankunft an.

Von drinnen erklang ein gebelltes: »Herein!«

Von drinnen erklang ein gebelltes: »Herein!«

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Christrosenküsse [Leseprobe]Место, где живут истории. Откройте их для себя