Kapitel 2: Atlas

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Ich bog um die nächste Ecke und entfernte mich aus ihrem Sichtfeld

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Ich bog um die nächste Ecke und entfernte mich aus ihrem Sichtfeld. Ein dumpfes Pochen in meiner Brustgegend ließ mich innehalten. Was war das für ein Gefühl?

Wenn ich nicht besser wüsste, dass ich kein Herz hatte und somit nicht dazu in der Lage war, ein unregelmäßiges Klopfen zu spüren, würde ich mich für verrückt erklären. Und doch war es da.

Unmöglich.

Ich legte eine Hand auf meine Brust, um dieses Klopfen selbst zu fühlen. Doch da war nichts. Kein Puls. Kein dumpfes Pochen. In mir existierte nichts. Ich war nur eine leere Hülle, genau so, wie es sein sollte.

Trotzdem verharrte ich noch einen Moment und ließ mich gegen die Wand sinken. Meine Gedanken rasten und kehrten zurück zu dem Augenblick, als sie aus dem Fahrstuhl stieg.

Ich hatte sie gesehen, bevor sie ihren Blick in meine Richtung gelenkt hatte. Ich hätte schwören können, dass die Welt für einen kurzen Moment stehen geblieben war. Die anderen Menschen hatten mich nicht interessiert. Sie waren zu einer eintönigen Masse verschwommen und hatten sie in ihrem Licht erstrahlen lassen.

Warum ich mich sofort zu ihr hingezogen gefühlt hatte, konnte ich nicht erklären.

Es war unmöglich.

Ich konnte selbst keine Gefühle empfinden. Alles, was ich an Emotionen spüren konnte, empfing ich von Horus, meinem Raben. In ihm hatte ich vor langer Zeit meine Seele gebündelt. Da er meine Seele in sich aufbewahrte, war er gleichzeitig zuständig für meine Gefühle und Empfindungen. Er war mein Auge und mein Ohr. Wenn es an der Zeit war, eine neue Seele zu holen, war es Horus, der mich informierte und mich zu ihr führte.

Durch ihn wusste ich, was um mich herum passierte. Zu jeder Zeit. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich die Welt aus seinem Auge sehen, egal, wie viele Kilometer er von mir entfernt war. Es ähnelte der Verbindung zwischen Odin und seinen Raben Hugin und Mudin.

Aber dieses Mal war es anders gewesen. Wenn Horus mir normalerweise Gefühle übermittelte, spürte ich ein leichtes Ziehen in meiner Brustgegend. Doch gerade eben war es eher ein starkes, dumpfes Pochen, das mir den Atem geraubt hatte. Noch nie zuvor waren die Gefühle so stark gewesen. Ich konnte sie nicht einordnen, wusste nicht, was sie bedeuteten.

Konnte es etwas mit dem Mädchen zu tun haben?

Wärme breitete sich in meiner Brust aus, wenn ich an sie dachte. Eine Wärme, die ich nicht empfinden sollte. Nicht durfte.

Der Gedanke an ihre dunkelbraunen Haare, die knapp über ihren Schultern in zarten Wellen ihr Gesicht umrahmten, und ihre haselnussbraunen, großen Rehaugen, die mich schockgeweitet angeschaut hatten, versetzte mir einen weiteren Stich. Ihre Wangen waren leicht rosig, als sie mir direkt vor die Füße gefallen war und mich peinlich berührt angestarrt hatte, als wäre es der schlimmste Moment ihres Lebens.

Ich hatte mich bemühen müssen, nicht zu lächeln, als sie sich vor mir mit hochrotem Kopf aufgerappelt hatte. Ich erinnerte mich nicht, wann ich das letzte Mal das Bedürfnis hatte, zu lächeln. Wusste sie, wie niedlich sie in diesem Moment ausgesehen hatte? Aus einem Impuls heraus war meine Hand hervorgeschnellt, um ihr aufzuhelfen, doch ich hatte mitten in der Bewegung gestoppt. Ich konnte sie nicht berühren. Sie hätte einfach durch meine Hand hindurchgegriffen, da ich für sie noch nicht existent war. Erst am Tag ihres Todes war ihr diese Geste möglich. Und so hatte ich meine Hand zurückgezogen und sie in meine Jackentasche gesteckt, ehe sie es bemerkt hatte und bevor ich auf weitere geniale Ideen gekommen wäre. Obwohl - sie hätte es sowieso nicht sehen können. Es war schwachsinnig, überhaupt über all das nachzudenken.

Soulless - Auf ewig verbundenWhere stories live. Discover now