✰ Kapitel 11

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Madelaine scheint meine Belastbarkeit für den Rest des Tages anzuzweifeln, was ich ihr nicht verübeln kann. Gleich nachdem wir Ethan zurück auf unsere Station gebracht haben, verweist sie mich daher liebevoll des Zimmers.

»Anthony meinte vorhin, dass jemand die Bestände vom Verbandsmaterial im Lager prüfen soll. Vielleicht kannst du das übernehmen?«, schlägt sie vor und meint damit ganz offensichtlich, dass sie mich zumindest für heute von den Patienten fernhalten möchte.

»Kein Problem«, antworte ich, denn ehrlich gesagt kommt mir ihr Vorschlag entgegen. Ohne erneut zu Ethan zu sehen, verlasse ich den Raum und schließe die Tür hinter mir. Als die Töne seiner Maschinen nur noch gedämpft zu mir vordringen, atme ich erleichtert auf.

Eilig durchquere ich im Anschluss den Flur, als mir auf halber Strecke Dr. Davis und zwei weitere Ärzte der Radiologie entgegenkommen. Ganz offensichtlich haben sie die Ergebnisse der Computertomographie und obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, stelle ich mich ihnen kurzerhand in den Weg.

Die Ärzte stoppen daraufhin abrupt, um nicht in mich hineinzulaufen. »Muss Mr. Marsh erneut operiert werden?«, platze ich heraus und ignoriere die aufsteigende Hitze, die meinen Körper einnimmt.

»Und Sie sind ...?«, will Dr. Davis wissen, während er mich abschätzig über den Rand seiner Brille betrachtet und schließlich an meinem Namensschild hängenbleibt.

»Mein Name ist Allie, ich arbeite hier und habe eben den Patiententransport übernommen«, erkläre ich trotzdem und versuche dabei so selbstbewusst wie möglich zu klingen.

»Wenn Sie hier arbeiten, sollten Sie eigentlich wissen, dass wir Befunde ganz sicher nicht auf dem Flur besprechen«, erwidert der Oberarzt kopfschüttelnd, bevor er und seine Gefolgschaft sich auch schon wieder in Bewegung setzen.

Einen Moment sehe ich ihnen peinlich berührt nach – dann ergreife ich die Flucht in Richtung Lager.

****

Als ich abends erschöpft in mein Bett falle, stelle ich überrascht fest, den gesamten Arbeitstag nicht an meinen Traummann gedacht zu haben. Viel zu sehr hat mich der Fall von Ethan Marsh in seinen Bann gezogen und somit eine unerwartete Ablenkung dargestellt.

Wie ich kurz vor Schichtende erfahren habe, hat die Computertomographie ergeben, dass eine weitere Operation wahrscheinlich nicht notwendig sein wird. Auch seine Hirnaktivität wurde erneut überprüft und ist glücklicherweise zufriedenstellend ausgefallen.

Außerdem hat mich Madelaine darüber in Kenntnis gesetzt, wie es zu seiner Verletzung kam: Ein Surfunfall in Ocean Beach, was knapp 150 Meilen von Baltimore entfernt liegt. Eine Kollision mit einem Jetski, während er auf dem Surfbrett stand – er hatte offenbar keine Chance zu reagieren.

Ethan wurde daraufhin bewusstlos aus dem Wasser gezogen, aber zumindest war der Rettungsdienst innerhalb weniger Minuten am Strand, um ihn zu versorgen. Durch den Aufprall kam es zu einer Schädelfraktur und einem Epiduralen Hämatom, wobei es sich um eine Blutung zwischen Knochen und harter Hirnhaut handelt. Aufgrund dessen musste er sofort notoperiert werden, was dann in dem nächstgelegenen Krankenhaus passiert ist. Es wurde eine Trepanation, ein Aufbohren des Schädels, veranlasst, um den Druck zu regulieren.

Sobald er transportfähig war, wurde er mit dem Helikopter ins Johns Hopkins Hospital gebracht, da Dr. Davis Spezialist auf dem Gebiet der Neurochirurgie ist und sich seinem Fall angenommen hat. Auch wenn eine erneute Operation laut aktuellem Stand nicht notwendig sein wird, ist es wichtig, dass er von einem Spezialisten überwacht wird.

Ruhelos drehe ich mich von der einen Seite auf die andere. Obwohl es absurd ist, nimmt mich das Schicksal dieses Patienten vollkommen ein. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mit Cassie darüber gesprochen, wie stolz ich darauf war, berufliches und privates trennen zu können und was ist jetzt? Ich liege weit nach Feierabend in meinem Bett und grüble über das Schicksal von Mr. Marsh nach.

Ohne weiter darüber nachzudenken, nehme ich mein Handy vom Nachttisch und entsperre den Bildschirm mit meinem Gesicht.

Es ist absolut unprofessionell, private Daten über Patienten herauszufinden, aber trotzdem kann ich nicht anders. Als erstes öffne ich Instagram und gebe Ethan Marsh in die Suchleiste ein. Erwartungsgemäß werden mir zahlreiche Personen mit dem Namen angezeigt. Da ich keine Ahnung habe, wie Ethan vor dem Unfall aussah und ich ihn lediglich mit Beatmungsschlauch und großflächigem Kopfverband kenne, erschwert dies eine Identifizierung ungemein.

Trotzdem scrolle mich eine halbe Ewigkeit durch die Ergebnisse, klicke hin und wieder ein Profil an und suche unter den entsprechenden Beiträgen der Person nach Kommentaren, die auf einen kürzlichen Unfall hinweisen.

Ich bin schon kurz davor aufzugeben, als ein Profilbild meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Auf einem der kleinen kreisrunden Fotos ist ein blaues Surfbrett abgebildet, weshalb ich entscheide, mir zumindest noch dieses eine Profil genauer anzusehen. Mittlerweile ist es weit nach Mitternacht und meine Augen brennen von der Anstrengung des Tages. Ohne große Erwartungen, aber mit einer nicht zu definierenden Unruhe, klicke ich schließlich auf das Symbol.

Erleichtert stelle ich fest, dass es sich um ein öffentliches Profil handelt. Der letzte Beitrag wurde vor neun Tagen gepostet und zeigt lediglich einen Sonnenuntergang, welcher ganz offensichtlich von einem Strandabschnitt aus aufgenommen wurde. Ich öffne das Bild und versuche zu identifizieren, ob es sich um Ocean Beach handelt. Immerhin kenne ich diesen Strand und war selbst schon ein paar Mal dort.

Unschlüssig betrachte ich das Foto, kann aber nicht mit Sicherheit feststellen, ob es wirklich dort entstanden ist. Auch die Kommentare unter diesem Bild verraten mir nichts über einen Surfunfall. Ich schließe die Aufnahme und scrolle weiter durch seinen Feed, um Anzeichen dafür zu finden, dass es sich vielleicht doch um den Ethan Marsh handeln könnte.

Es ist vollkommen unangemessen, derartige Recherche – Cassie würde es vermutlich Stalking nennen – zu betreiben, aber irgendein innerer Antrieb sorgt dafür, dass ich nicht in der Lage bin, mein Handy beiseite zu legen.

Als ich fast am Ende seines Feeds angelangt bin, entdecke ich etwas, was mir wortwörtlich das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Ein Gesicht, welches in Nahaufnahme zu sehen ist.

Die braunen Haare offenbar von einem langen Tag am Strand verwuschelt. Er sieht direkt in die Kamera, seine hellbraunen Augen werden von einem dunklen Rand umgeben und selbst die kleinen Farbklekse in seiner linken Iris sind deutlich zu erkennen. Dichte Wimpernkränze rahmen seine Augen ein, während er die vollen Lippen zu einem leichten Lächeln angehoben hat. Das Grübchen in seiner rechten Wange gibt mir den Rest und kurzerhand werfe ich mein Handy aus dem Bett.

Ich vernehme, wie es gedämpft auf dem Teppich aufschlägt, aber ich bin nicht fähig, mich zu bewegen. Hilflos lausche ich meinem eigenen Herzschlag, während mein Körper abwechselnd von Hitze und Kälte erfasst wird.

»Das hast du dir bloß eingebildet«, rede ich mir selbst ein. Ich versuche meine hektischen Atemzüge in den Griff zu bekommen und schließe angestrengt die Augen, um mich zu beruhigen.

Es kann nicht sein, das ist unmöglich.

Ich weiß nicht, wie lange ich regungslos daliege. Irgendwann fühle ich mich zumindest in der Lage, einen vorsichtigen Blick zu meinem Telefon zu riskieren. Es liegt auf dem Teppich, das Display nach unten gerichtet.

»Du bist übermüdet und siehst Dinge, die nicht real sind«, versuche ich mich selbst zu überzeugen, bevor ich mich aus dem Bett rolle und in Zeitlupe mein Telefon aufhebe.

Einen Augenblick lang stehe ich einfach nur da, dann atme ich einmal tief ein und traue mich endlich, erneut das noch immer geöffnete Foto anzugucken.

Aber egal, wie oft ich auch blinzle und versuche, das Unfassbare auszublenden:

Ethan Marsh ist eindeutig der Mann aus meinen Träumen.

DreamerWhere stories live. Discover now