✰ Kapitel 28

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Als ich aus dem Krankenhausgebäude ins Freie eile, hebe ich meinen Blick, um in den wolkenverhangenen Himmel sehen zu können. »War das meine Aufgabe? Ethan beizustehen, während er im Koma liegt?«, flüstere ich in Richtung des Horizontes, fast so, als würde ich tatsächlich eine Antwort erwarten. Einen Moment verharre ich daraufhin erschöpft auf der Stelle, nicht fähig, mich auch nur einen Millimeter weiterzubewegen.

»Und? Erzähl mir alles!«, reißt mich Cassie schließlich aufgeregt aus meinen Gedanken. Sie steht auf einmal vor mir und grinst mich erwartungsfroh an.

Ich seufze leise, woraufhin ihr Lächeln langsam einfriert. »Oh Gott, so schlimm?«, schiebt sie besorgt nach. Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, schlingt sie ihre zarten Arme um mich.

Irgendwann lösen wir uns voneinander und ich beginne, ihr detailliert von dem Gespräch mit Ethan zu berichten. Als ich meine Erzählung abgeschlossen habe, betrachtet sie mich sichtlich verwirrt. 

»Was hast du auf seine Frage geantwortet?«, will sie ohne Umschweife wissen.

»Hm?«, gebe ich mich ahnungslos, obwohl ich natürlich sofort weiß, worauf sie hinauswill.

»Allie! Hast du ihm gesagt, dass du ihn nochmal besuchen kommst?« Sie sieht mich mit ihren großen braunen Augen fragend an.

»Ich habe vielleicht gesagt«, erwidere ich und schließe meine Augen für einen kurzen Moment.

»Vielleicht?«, wiederholt sie meine Worte fassungslos. Ich meine sogar, den Anflug von Ärger in ihrer Stimmlage zu erkennen. »Er erinnert sich endlich an dich und du weißt plötzlich nicht mehr, ob du ihn wiedersehen willst?«

»Du verstehst das nicht«, winke ich ab. Niemand kann das und ich weiß wirklich nicht, wie ich ihr das am besten klarmachen soll.

»Dann erklär es mir!«, verlangt sie aufgebracht, ihre Hände fordernd ausgestreckt. »Du beendest die Beziehung zu Ian, vergehst fast vor Liebeskummer wegen Ethan und jetzt, wo er sich dir annähert, weist du ihn zurück? Ich checke es einfach nicht!«

»Er erinnert sich an mich, aber er erwidert meine Gefühle nicht!«, rufe ich und lasse nun doch zu, dass sich all die aufgestauten Emotionen ihren Weg nach draußen bahnen. Eigentlich wollte ich nicht mehr heulen, aber nun laufen doch wieder unkontrollierbare Tränen über meine Wangen.

»Das kannst du nicht wissen«, antwortet sie deutlich versöhnlicher. Sie will nach meiner Hand greifen, aber ich trete entschieden einen Schritt zurück.

»Oh doch, ich konnte es ganz deutlich fühlen!«, fahre ich unbeirrt fort. »Die Träume, die er im Koma von mir hatte, haben ihn verwirrt und er wollte mich sehen, weil er nicht wusste, was das zu bedeuten hat. Was hätte es also gebracht, ihn zusätzlich mit meinen Visionen zu belasten?«

Cassie sieht mich einen Moment nur stumm an, bevor sie irgendwann wieder das Wort ergreift: »Du wirst jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken, Alison Bennett!«

»Nenn mich nicht–«, beginne ich, aber sie verringert die Distanz zwischen uns und bedeutet mir mit einer Geste, endlich still zu sein. Ihre braunen Augen funkeln mich herausfordernd an.

»Meine beste Freundin Allie würde nicht aufgeben und so lange du dich nicht so verhältst, wie sie es tut, werde ich dich Alison nennen, klar?«

»Ich gebe nicht auf«, flüstere ich erschöpft, »ich versuche lediglich nach vorne zu schauen. Ethan geht es gut, er wird wieder ganz gesund und anscheinend haben ihm die Träume von mir geholfen, das Koma zu überstehen. Außerdem war ich bei ihm, als er seine ersten Worte nach dem Aufwachen gesprochen hat. Verstehst du nicht? Meine Aufgabe ist erfüllt.«

»Glaubst du eigentlich selbst, was du da sagst? Ich dachte, du liebst ihn?«

»Das tue ich auch und genau deshalb muss ich jetzt loslassen.«

»Gib mir Bescheid, wenn meine beste Freundin wieder da ist, Alison«, erwidert sie daraufhin nur kopfschüttelnd. Dann dreht sie sich auf dem Absatz um und lässt mich ohne ein weiteres Wort vor dem Klinikgebäude stehen.

****

Zwei Tage. So lange hatte ich noch nie keinen Kontakt zu Cassie. Sie beantwortet meine Anrufe nicht und auch über Madelaine kann ich sie nicht erreichen. Nicht mal zu den Vorlesungen ist sie erschienen, was überhaupt nicht zu ihr passt.

Ich bin wirklich stinksauer auf sie, aber gleichzeitig vermisse ich meine beste Freundin unglaublich. Natürlich denke ich ebenfalls ununterbrochen an Ethan und frage mich, wie es ihm wohl geht. Irgendwie scheint meine kleine Welt vollkommen aus den Fugen geraten zu sein, weshalb ich meine Freizeit hauptsächlich im Bett verbringe. Auf dem Boden stapeln sich bereits die Pizzakartons und Staubsaugen müsste ich auch dringend mal wieder, wie ich bei einem Blick auf den Teppich feststelle.

Allerdings bin ich von meinem geistigen Chaos so erschöpft, dass ich dafür keine Kraft aufbringen kann. Stattdessen rolle ich mich mal wieder in meine Decke ein und schalte irgendeinen Film an, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Nach den ersten zehn Minuten merke ich, wie mir langsam die Augen zufallen, aber ich versuche gar nicht erst, dagegen anzukämpfen.

Plötzlich spüre ich den warmen Sand unter meinen Füßen und als ich aufsehe, blicke ich geradewegs auf den blauen Ozean vor mir. Eine angenehme Brise wirbelt ein wenig Sand auf und ich beobachte fasziniert, wie er in die Luft gezogen wird. Es scheint fast, als würde er für mich tanzen.

Es ist so friedlich hier. 

Die Wellen sind sanft und ich nehme einen tiefen Atemzug der salzigen Meeresluft, als sich plötzlich von hinten eine Hand um meine Hüfte legt. »Hey«, flüstert eine mir nun bekannte Stimme in mein Ohr und ich muss unwillkürlich lächeln.

»Selber hey«, erwidere ich irgendwann und er dreht mich vorsichtig zu sich um. Als sich unsere Blicke treffen, entfacht sofort ein kleines Feuerwerk in meinem Bauch. »Ich habe dich so vermisst«, flüstere ich heiser, woraufhin er mir sanft mit dem Daumen über meine Wange streicht.

»Dann geh nicht weg«, antwortet er ebenso leise, während seine Augen meinen Mund fixieren.

Ungeduldig überbrücke ich die letzten Zentimeter zwischen uns, lege meine Lippen fordernd auf seine und schlinge meine Arme um seinen Hals. Unser Kuss ist so intensiv, so leidenschaftlich, dass ich mich nicht von ihm lösen will. »Ich werde nicht gehen«, hauche ich gegen seinen Mund, nur um meine Lippen im Anschluss umso stürmischer gegen seine zu drücken.

Dann verblasst plötzlich alles um uns herum und ich schlage erschrocken die Augen auf.

»Oh Gott«, rufe ich aufgewühlt, nachdem ich mich mit klopfendem Herzen in meinem Bett aufgerichtet habe. Meine Finger wandern fassungslos zu meinen Lippen, wo ich mir einbilde, noch immer die Wärme seines Kusses spüren zu können.

Ich muss zu Ethan. Sofort!

DreamerWhere stories live. Discover now