Kurzfristig

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"Nach Kalifornien?", fragt er erneut ungläubig und mustert mich verdächtig lange. "Es ist auch ganz sicher kein Witz? Irgendeine Art Prank? Du weißt doch ich kann die gar nicht leiden?", schmollend verzieht er seinen Mund, während er es sagt. Grinsend schüttel ich meinen Kopf, ich spüre wie mich dabei die mittlerweile zu langen Locken an meinem Kinn kitzeln. "Kein Witz", lautet meine Antwort. Vincent springt von seinem Stuhl auf, wobei dieser krachend zu Boden fällt und dort verharrt, was anderes sollte ein Stuhl auch machen? Mein Kindheitsfreund schließt mich in seine Arme, fast denke ich, dass er gleich vor Glück losheult. 

"Und warum?", fragt Vincent, als er mich endlich loslässt. Ich schaue in seine haselnussbraunen Augen und überlege. "Das Schuljahr ist vorbei und wir wollten beide schon immer hin. Warum sollten wir es bis zum letzten Schuljahr lassen, wenn wir jetzt schon das Geld haben?", ich lüge nicht, aber die ganze Wahrheit erzähle ich ihm auch nicht. Dennoch verdüstert sich sofort sein Gesicht, wie als würde sich ein Schatten darüber legen. "Was ist denn los?", frage ich ihn besorgt, dass er trotz anfänglicher Freude, vielleicht doch nicht mit will. 

"Geld", murmelt er, "Wir haben zwar gespart, aber war das genug?" Ich sehe wie in seinem Kopf alle Räder auf Hochtouren laufen und er sich angestrengt versucht zu erinnern, wie viel wir denn genau gesparrt haben. "Keine Sorgen, ich habe den Flug schon gebucht", erkläre ich ihm und auch hier verschweige ich einige wichtige Details. Einer davon ist, dass mir beinahe die ganze Reise spendiert wird. Auch um unsere Visa und die anderen Kleinigkeiten rund um das Anreisen, muss ich mir keinen Kopf machen. Ich weiß, dass er nicht fragen wird woher ich das Geld habe, woher die kleinen Stempel im Pass stammen, welche wir dringend für unsere Reise brauchen. Er wird es nicht verstehen und er wird es höchstwahrscheinlich gar nicht erst bemerken. 

Vincent ist achtzehn, sein Leben beginnt gerade und das auch wenn er noch nicht einmal sein Abitur hat. Zum Glück wurde er damals ein Jahr später eingeschult, sonst hätten wir uns trennen müssen. Ich bin siebzehn und so weit wie er werde ich wahrscheinlich nicht kommen. 

"Fynn?", reißen mich seine Worte zurück in die Gegenwart. "Hmm?", mache ich und schaue ihn an. "Wie soll ich meiner Mutter erklären?", anscheinend wiederholt er die Frage, denn er hat diesen Blick aufgesetzt, diesen Hörst-Du-Mir-Noch-Zu-Blick. Leonie wusste es, auch sein Vater Michael, selbst die Schule und noch mindestens zehn weitere Leute, wahrscheinlich sogar mehr. "Mach dir keine Sorgen", beruhige ich ihn, "Sie wird es erlauben." Sie wird nicht, sie hat es schon... "Und wohin genau fliegen wir?", erkundigt Vincent sich. Gerade nervt es mich, ich bin gerade einfach unglaublich müde. Angestrengt reiße ich mich zusammen, um nicht vor ihm zu gähnen, nicht wenn es kaum einmal zwölf Uhr ist und ich ansonsten nie gähne.

"An die Küste, ich habe eine kleine Hütte gemietet." Ich kann erkennen wie seine Augen leuchten. Schon immer wollten wir an die Küste, es war unser Traum seit der Grundschule. "Wie hast du das nur so billig finden können?", stochert er weiter rum und langsam bekomme ich Angst, er könnte doch noch misstrauisch werden. "Schnäppchenjäger", erwidere ich grinsend. Er fährt sich mit einer Hand durch seine blonden Haaren, trotzdem fallen sie ihm wieder vor ins Gesicht. "So kenne ich dich!", sagt er und klopft mir dabei freundschaftlich auf die Schulter. Das tut er mit einer so großen Kraft, dass er mich fast umhaut und ich mich anstrengend muss, nicht einfach umzufallen. 

"Alles gut?" Natürlich hat er es bemerkt, es schreit ja einfach nach Aufmerksamkeit - Hier einfach beginnen zu schaukeln, als wäre ich eine der aufblasbaren Werbeträger, welche immer vor der Autowerkstatt stehen. "Ja, bin nur etwas Müde", gestehe ich ihm und schaue ihm dabei nicht ins Gesicht. 

"Eye Bro ich freue mich so sehr!", ruft er begeistert aus, "Wann geht's eigentlich los?" Eine gute Frage. "Sagen wir es mal so, es ist kurzfristig", versuche ich die Antwort noch etwas hinauszuzögern. Ich sehe seinen erwartungsvollen Blick und kann es einfach nicht mehr für mich behalten. "In zwei Tagen", flüstere ich, dass ich mich selber kaum verstehe.

Vincent öffnet seinen Mund, dann schließt er ihn wieder. Diesen Vorgang wiederholt er mehrmals. "Das wird meine Mutter niemals erlauben", keucht er irgendwann. Verzweifelt fährt er erneut durch seinen braunen Haare und krallt sich an ihnen fest. "Ich will ja wirklich mit", sagt er und klingt ziemlich verzweifelt, "Aber du weißt doch wie meine Mutter tickt..." Weiß ich, sie ist eigentlich sehr nett und kann dennoch in einigen Situationen sehr merkwürdig reagieren. Aber das hier ist anders - Es ist wie ein Traum, ob gut oder schlecht weiß ich noch nicht. Immerhin denke ich noch irgendwie positiv, denke ich und zwinge mir ein Lächeln auf.

"Und wann kommen zurück? Boah die Tickets müssen ja so teuer sein!" Vincent schüttelt seinen Kopf und holt sein Handy hervor. Ich habe Angst, er könnte es googeln und irgendwelche grässlich hohen Zahlen finden. Mit einer raschen Bewegung senke ich seine Hand mit dem Telefon. Erstaunt sieht der junge mich von oben an. Er ist zwar nur zehn Zentimeter größer als ich, doch vom ständigen Hinaufsehen habe ich ständig Nackenschmerzen. "Wir kommen erst am Montag in der ersten Schulwoche, wir haben zwar erst ein Rückflug Ticket gekauft, aber auf das zweite wollen meine Eltern mir später das Geld überweisen", erkläre ich ihm. Ich sehe wie er etwas sagen will, hindere ihn aber dabei: "Und ja, meine Eltern werden mich vom ersten Schultag entschuldigen und bestimmt überredet meine Tom deine."

Er grinst. "Stimmt", murmelt er noch immer lächelnd, "Die zwei verstehen sich sehr gut." Ich schaffe es nur zu nicken, plötzlich übermannt eine, mir so sehr bekannte Müdigkeit. In den letzten Wochen hatte sie mich oft begleitet und mir meine Tage schwer gemacht. Ein Hustenanfall übermannt mich und ich verschlucke mich an meiner eigene Spucke und huste weiter. Unbeholfen klopft mein Freund mir auf den Rücken. Er sagt nichts und trotzdem will ich mich erklären. Es tut weh, ihm so etwas wichtiges zu verheimlichen.  "Also hatten wir doch nicht genug Geld", stellt er nach kurzem Überlegen fest. "Genau", flüstere ich. 

Eigentlich gibt es unsere gemeinsame Kasse noch und sie ist zum Platzen gefüllt. Nach wie vor steht sie in meinem Schrank, hinter den ganzen Winterklamotten verborgen und somit vor fremden Blicken geschützt. "Und was passiert wenn wir das Geld nicht bekommen? Bleibt dann einer von uns in Amerika?", Vincent lacht, aber ich muss hart schlucken. Es wird nie ein zweites Flugticket geben, denn entweder bin ich dann nicht mehr da oder ich bleibe für immer dort. 

Ich schenke dir mein HerzWhere stories live. Discover now