Nicht bewegen!

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Zuerst ist das Motorengeräusch leise, wie das zufriedene Schnurren einer Katze, dann immer lauter und immer röhrender, bis mein gesamter Kopf davon erfüllt ist.

Das Röhren greift nach mir, nistet sich irgendwo in meinem Brustkorb ein und zieht, als wäre ich an Marionettenfäden gebunden. Unwillkürlich kralle ich meine Finger um den Rand des verwitterten Brunnens, neben dem ich zu stehen gekommen bin, obwohl diese Verbindung mit der Welt der Lebenden jederzeit durchtrennt werden kann, wenn ich auch nur einen Moment lang meine Konzentration verliere.

Ein kalter Luftzug fährt mir in die Haare und ich weiß, dass Theresa und Kyle hinter mir aus dem Schloss geeilt kommen, ich kann ihre Nicht-Schritte auf dem Kies der Einfahrt hören, aber ich drehe mich nicht um.

„Nicht bewegen!", ruft Kyle und ... ja, das ist der Moment, in dem ich meine Konzentration verliere. Meine Finger lösen sich von dem Brunnen und ich taumele nach vorne.

Eigentlich müsste ich erstarren, aber ich habe immer noch das Gefühl, als würde ich an einem Angelhaken hängen und unerbittlich aus dem Wasser gezogen werden. Meine Füße bewegen sich ohne mein Zutun.

Das Tor. Ich konzentriere mich auf das Tor, durch das Kyle, Theresa und ich vorhin so mühelos getreten sind. Der Aufprall ist beinahe unangenehm, aber ich schaffe es, mit beiden Händen die  gusseisernen Streben zu umklammern.

Der Nachteil ist, dass ich jetzt direkt auf die Straße schaue. Und wenn ich dort etwas sehe, weiß ich, dass es auch mich sehen kann.

Das, von dem das mittlerweile schmerzhafte Ziehen in meiner Magengegend ausgeht.

Ich hätte mehr erwartet, mindestens das Monster, das Theresa vorhin so liebevoll als ‚Fluffy' bezeichnet hat. Aber es ist nichts dergleichen.

Auf der Straße steht ein Auto. Würde ich nicht den unmissverständlichen Zug verspüren und würde der Motor nicht immer noch so dröhnen, dass meine Zähne erbeben, ich hätte ihm wahrscheinlich nicht einmal besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Es ist ein weißer Wagen mit einem schwach bläulich leuchtenden Schild auf dem Dach. Fast schon dezent, fast schon so, dass man es übersehen könnte. Taxi steht darauf.

„Geh weg", flüstere ich, als ich genug Atem holen kann, um die Worte herauszubringen. Ja, streng genommen muss ich nicht mehr atmen, aber in solchen Situationen holt mich das Menschsein ein.

Der Zug in mir wird stärker, unheimliche Stille hat sich über die ganze Szene herabgesenkt.

Ich will nicht eine derjenigen sein, die verschwindet. Ich habe mich doch gerade erst angefreundet mit dem Gedanken, mein Dasein als Poltergeist zu führen. Es ist doch noch gar nicht so lange her, dass ich – wieder füllt der weiße Nebel meinen Kopf, eine Blockade, die ich nicht lösen kann.

Die Erfahrung verwirrt mich so sehr, dass die Metallstreben vor mir nachgeben. Ich taumele durch das Tor und wenn das Wesen, das im Inneren des Taxis sitzt, mich bis jetzt noch nicht gesehen hatte ... jetzt tut es das. Meine Füße rucken Schritt für Schritt nach vorne, ich bewege mich unaufhaltsam auf den Wagen zu.

Selten war ich mir einer Sache so sicher: Es ist eine ganz, ganz schlechte Idee, da einzusteigen.

Aber ich kann nicht anders. Ich kann es nicht aufhalten. Langsam strecke ich die Hand nach dem Türgriff aus.

Dann gräbt sich ein pinker Blazer in mein Sichtfeld. „Theresa?"

Im Gegensatz zu mir bewegt sie sich nicht wie auf Schienen, sondern ganz bewusst. Sie rennt nämlich.

Bevor ich eine Chance habe zu begreifen, was gerade vor sich geht, stößt sie mich zur Seite und ich verliere auf meinen unsicheren Beinen das Gleichgewicht und lande unsanft auf dem Boden.

In MemoriamWhere stories live. Discover now