Vom Auftauchen ...

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Ich halte inne. „Du tust was?" Es ist unmöglich, dass Kyle schon vier Tage auf mich wartet. Ich bin doch gerade erst in Leifs Taxi gestiegen?

Kyle mustert mich, als hätte er Angst, dass ich mich im nächsten Moment in Luft auflöse. „Du hast mich auch beim ersten Mal schon gehört."

„Ich ..." Ich weiß nicht, wie ich den Satz beenden soll. „Kyle, ich schwöre dir, länger als eine Stunde war ich nicht mit Leif unterwegs."

Er mustert mich. „Wenn du das sagst." Bei jedem anderen hätte die Antwort skeptisch geklungen, aber nicht bei Kyle. Genau so, wie ich weiß, dass er mich nicht auf den Arm nimmt, wenn er sagt, er hat vier Tage auf mich gewartet.

„Danke", flüstere ich. „Dass du trotzdem noch hier bist."

Kyle zuckt nur mit den Schultern, aber es sieht gezwungen aus. Als würde er immer noch auf etwas warten. Wahrscheinlich sehe ich genau so aus, wenn ich auf Leifs Fangzähne warte.

„Dann können wir ja reingehen", sage ich. In Sinas Zimmer brennt noch Licht.

„Miri ..." Kyle rührt sich nicht von der Stelle.

Ich beiße die Zähne zusammen. „Willst du nicht, dass ich meine Erinnerungen zurückbekomme?" Es hat sich mehr Schärfe in meine Stimme geschlichen, als ich geplant hatte.

„Wenn es dir wichtig ist, dann –"

„Natürlich ist es mir wichtig!", fahre ich ihn an und fühle mich einen Moment später schlecht deswegen. „Tut mir leid, tut mir leid", schiebe ich sofort hinterher. „Aber es ist mir wirklich wichtig. Diese offenen Fragen machen mich wahnsinnig."

Kyle mustert mich immer noch und ich kann den Ernst in seinen Augen sehen, trotz der Baseball-Cap. „Also gut."

Wir sind untypisch leise, als wir Sinas Zimmer betreten. Ich habe mir keinerlei Treppenknarren oder ähnliches erlaubt. Heute fühlt es sich an, als wäre ich hier. Eine alte Version von mir, die ganz buchstäblich gestorben ist.

Sina sitzt auf ihrem mit blassgrüner Bettwäsche bezogenen Bett und hat die Knie an die Brust gezogen, ihre blonden Haare ein Schleier um ihre Schultern. Sie hat die Augen auf ein Ouijabrett gerichtet, das vor ihr auf der Bettdecke liegt.

Emily ist auch hier, ihre Haare in sorgfältige Locken gelegt, ihr Make-up noch so perfekt, als wollte sie ausgehen. Ihr Blick flackert unruhig zwischen dem Brett und Sina hin und her. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass für Emily unsere Begegnung schon mehrere Tage her sein kann.

„Sie ist vor zwei Tagen hergekommen", erklärt Kyle. „Hat etwas von einem Poltergeist erzählt?"

Ich erlaube mir ein kurzes Grinsen, aber mein Gesicht fühlt sich steif an.

„Jedenfalls starrt sie seitdem genau wie Sina auf dieses Brett", fährt Kyle fort. „Jedenfalls ist es hauptsächlich das, was sie tun. Bisher habe ich nicht geantwortet."

„Danke", murmele ich ein zweites Mal und Kyle wedelt ein paar Mal unbeholfen mit den Armen, weil er offensichtlich nicht weiß, was er noch sagen sollte.

„Vielleicht brauchen wir doch ein Medium?", sagt Emily unvermittelt und sieht Sina mit einer gewissen Vorsicht an.

Die zuckt nur mit den Schultern, die Finger auf das dreieckige Holzstück auf dem Ouijabrett gepresst. Mir ist klar, dass die zwei Mädchen diese Unterhaltung nicht das erste Mal führen.

„Und ... vielleicht fragst du sie das nächste Mal einfach nach einer realen Person?", sagt Emily hastig. „Dein Test hat doch funktioniert. Sie kann wirklich zu Geistern Kontakt aufnehmen."

In MemoriamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt