𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 8.3

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3. März 14:02 Uhr, Highschool, Halcolne

Nachdem mir Alice das Einverständnis gegeben hatte, holte ich mein Handy wieder aus meiner Hosentasche und schaltete es an. Zehn verpasste Anrufe. Mein Vater merkte anscheinend wirklich nicht, dass ich nicht rangehen wollte. Oder er hatte wirklich Angst um mich und wollte daher sichergehen, dass es mir gutging. Allerdings sollte er mitbekommen haben, dass der Zeitpunkt nicht besonders passend war.

Alice sah mir ganz genau bei meinen Aktivitäten zu, die ich am Handy trieb. Ich scrollte schleunigste jegliche Nachrichten beiseite und ging auf meine Anrufliste, um Dad zurückzurufen.

Bereits nach wenigen Sekunden ertönte die raue Stimme meines Vaters am anderen Ende der Leitung. Er klang tatsächlich besorgt.

„Jane? Jane, bist du das?" Hektisch und rauschend wurde die Frage durchgegeben.

„Ja, ich bin es, Dad", antwortete ich und versuchte gelassen zu klingen, als wäre alles normal. Dabei konnten weder Alice noch mein Vater wissen, wie unendlich stark mein Herz gerade pochte. Es könnte in jedem Moment gegen meine Rippen schlagen und diese zum Zerbrechen bringen.

„Was ist los? Wo bist du?"

„Ich bin in der Schule" Ich war ehrlich. So ehrlich es ging, denn ich merkte, dass mich Alice nach dieser Aussage sehr kritisch betrachtete.

„Aber wo? Und ist diese Amokläuferin noch bei dir? Du musst mir doch etwas sagen können!"

Ich seufzte und beschloss, meinem Gewissen zu vertrauen. Alice war zwar unberechenbar, aber kein Unmensch. Sie mochte mich und würde mich deshalb nicht umbringen. Zumal sie sowieso nur eine einzige Kugel übrighatte und sonst keine Waffen mehr. Ich wollte ihm die Wahrheit sagen.

„Ja, Alice ist bei mir. Aber ich werde dir sicher nicht sagen wo, damit du irgendwelche Leute hinschickst, die mich dann mit Gewalt rausholen, okay? Es ist alles in Ordnung. Ich kläre das, solange ihr euch zurückhaltet."

Danach legte ich auf und steckte das Handy wieder ein.

„Warum?", fragte Alice mich und ich konnte nicht anders, als das Gesicht, das sie beim Fragen aufsetzte, unfassbar attraktiv zu finden, sodass mich kaum auf etwas anders konzentrieren konnte. Wie sich eine ihrer Augenbrauen nach oben zog und sich ihre eiskalten Augen leichten zusammenzogen. Dazu befand sich ihr Kopf in einer ganz leichten Schieflage, ohne dass sie es überhaupt zu bemerken schien.

„Weil ich wollte, dass du in Ruhe gelassen wirst. Du sollst dir die Zeit nehmen können, darüber nachzudenken, was du tun willst. Ich möchte dich auch zu nichts drängen. Es geht darum, dass du entscheidest, was für dich richtig ist."

Nach diesen Worten starrte mich Alice an, ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Die Kälte in ihren Augen fing an, sich aufzulösen und aus dem Eis wurde Tauwasser, was für mich ein Zeichen von Frühling war. Neubeginn.

„Meinst du das ernst?", hauchte sie und sah mich an, als wäre ich ein Engel, der vor ihren Augen die frohe Botschaft Gottes verkündet hatte.

„Natürlich" sagte ich entschlossen und blickte weiterhin zu ihr hinauf.

„Also war der Kuss und das alles echt? Du hast mich nicht angelogen?"

Erst in dem Moment, als ich die folgenden Worte aussprach, wurde mir bewusst, welche Tragweite dieser Kuss von vorhin tatsächlich hatte.

„Nein. Ich liebe dich Alice, zumindest glaube ich das."

Nach diesen Worten blieben wir beide still und verarbeiteten das, was ich gerade in den Raum geworfen hatte, ohne darüber nachzudenken. Oder hatte ich nachgedacht? Ich wusste es nicht mehr. Seit diesen wenigen Stunden hatte sich alles in meinem Leben verändert und nichts war mehr so wie vorher.

Irgendwann begann Alice wieder auf mich zuzugehen und mich in eine feste Umarmung zu schließen, die ich ebenfalls erwiderte. Auf meinem Rücken spürte ich die Pistole, die sie unabsichtlich an mich drückte.

„Leider weiß ich nicht, wie Küssen so richtig geht, sonst würde ich es gern tun...", flüsterte Alice in mein Ohr und ich musste kurz schmunzeln, sah aber, wie rot ihre Wangen geworden waren, als wir uns aus der Umarmung lösten.

„Das ist nicht schlimm", entgegnete ich und nahm ihre Arme wie Puppenspieler in die Hände.

„Die legst du die Arme um meine Hüfte." Sie nickte und tat, was ich sagte.

„Jetzt kommst du mir etwas näher." Sie nickte und tat, was ich sagte.

„Ich hebe die Arme und lege sie dir um den Hals. Achtung!" Ich tat es und sie ließ es zu.

„Und jetzt bewegen sich nur noch die Lippen aufeinander zu. Mehr ist es nicht."

Wir folgten beide meinen Anweisungen und es endete damit, dass unsere Lippen erneut aufeinanderlagen und ich dieses Gefühl einfach nicht beschreiben konnte. Es gab einfach kein Wort, das Liebe und Verliebtsein beschrieb. Für jeden war dieses Gefühl individuell. Für mich war es annäherungsweise himmlisch.

Irgendwann machte sich Alice vorsichtig von mir los und nickte mir zu. „Ich hab mich entschieden. Wir gehen raus. Ich stelle mich."

„Jetzt?"

„Ja, jetzt. Wann dann? Ich kenne keinen Ausweg mehr. Das sollte zwar alles etwas anders laufen, aber gut... Hier bin ich und ich habe mich entschieden. Kommst du mit?"

Ich lächelte sie an wie eine stolze große Schwester. Dann nahm ich ihre rechte Hand, da sich in der linken die Pistole befand.

„Warte!", unterbrach sie mich. Sie eilte zurück in die Toilettenkabine und ich befürchtete zunächst, sie würde sich dort verschanzen. Stattdessen kam sie mit einem Buch heraus.

„Den Rucksack brauch ich eh nicht mehr", sagte sie abfällig und hielt mir das Buch hin. ‚Alice im Wunderland'. Ein Klassiker. „Du musst dieses Buch für mich nehmen. Es bedeutet mir so unglaublich viel. Ich wollte immer so sein wie Alice", sagte sie mit einem wehmütigen Blick auf das Exemplar, welches sie mir nun überreichte. Ich nahm es natürlich an.

„Aber du bist doch Alice?", fragte ich verwundert nach.

„Ja, aber nicht so geliebt. Ich wollte auch eine große Heldin werden. Am Ende bin ich jedoch der Bösewicht der Geschichte geworden. Ich hab das alles nicht gewollt."

Nun nahm ich tatsächlich ihre Hand. „Für mich bist du nicht böse. Komm, wir gehen. Zusammen?"

Sie rang sich ein letztes Lächeln ab und ich konnte den Gegendruck ihrer Hand spüren.

Zusammen."

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Where stories live. Discover now