Leseprobe

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Es gibt Momente, in denen sich dein Lebensweg gabelt, weil du dir eine Frage stellst, bei der dich jede Antwortmöglichkeit in eine völlig andere Richtung verschlagen wird.

Eine so schwerwiegende Frage, die dein Leben für immer verändern wird.

Sie wird dich zweifeln lassen, dir den Atem rauben, dich in den Wahnsinn treiben.

An so einem Punkt im Leben war Mila Giordano in diesem Augenblick angekommen.

Mit leicht zusammengekniffenen Augen ließ sie den Blick hinter ihrer dunklen Sonnenbrille hin und her wandern und fragte sich ihre persönliche Gretchenfrage:

Ist fünf Uhr nachmittags zu früh für einen Mojito?

Okay, wenn wir ehrlich waren, stellte sie sich im selben Atemzug noch zwei weitere:

Zählt ein Mojito überhaupt, wenn er to go ist?

Ist es gerechtfertigt, am helllichten Tage Alkohol zu konsumieren, wenn man vor nicht einmal acht Stunden unerwartet und ganz schön skrupellos abserviert worden ist?

Egal. Gerade war Mila wirklich alles egal.

Vor zwei Minuten war sie in Venedig angekommen, hatte den stinkenden Zug verlassen und stand nun auf dem sonnigen Vorplatz des venezianischen Bahnhofs, wo sie eine kleine Ape – das waren diese dreirädrigen Autos mit Ladefläche – erspäht hatte, die zu einer fahrbaren Cocktail-Bar umfunktioniert worden war. Blinkende Lichter und laute Musik lenkten die Aufmerksamkeit auf das putzige Fahrzeug, das in mintgrün angemalt worden war – Milas Lieblingsfarbe. Wenn das also kein Zeichen war.

Nein.

Nein, fünf Uhr nachmittags war nicht zu früh für einen Mojito.

Mit gestrafften Schultern schob Mila ihren schweren Schalenkoffer näher zu dem kleinen Cocktail-Fahrzeug und beäugte die Preise auf der hölzernen Tafel über den Rand ihrer großen Sonnenbrille. Fünf Euro für einen Drink! Schnäppchen!

Marvin würde sie mit hochgezogenen Augenbrauen und gerümpfter Nase ansehen, wenn er hier neben ihr stände, und bestimmt sagen, dass sie sich sicher Herpes oder Masern oder Affenpocken holen würde.

Deutscher und unentspannter ging es kaum. Gut, dass Marvin sich nicht mehr in ihrem Leben befand. Der und seine negative Energie.

Schon wanderten Milas Gedanken zurück zum heutigen Morgen, als sie neben ihrem Freund – naja, nun Exfreund – aufgewacht war und er ihr wenige Sekunden später einfach ins Gesicht gesagt hatte: „Du, Mila, pass mal auf, ich glaube, das mit uns ist vorbei."

Einfach so.

Er hatte nicht einmal Guten Morgen gesagt oder ihr die Chance gegeben, erst einmal richtig aufzuwachen.

Für einen Moment hatte Mila überhaupt nicht gerafft, was er da gerade von sich gegeben hatte. Sie hatte neben ihm in seinem Bett gelegen und ihn angesehen, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen.

„Du glaubst, dass es vorbei ist?"

Eine ihrer dunklen Augenbrauen war nach oben gewandert.

„Du bist mir einfach zu unabhängig, das kann ich nicht mehr."

Das hatte er tatsächlich gesagt. Waren Frauen Männern nicht sonst immer genau das Gegenteil – nämlich zu klammernd? Gab es nicht dieses Klischee, dass Frauen ihre Freunde an einer unsichtbaren Leine hielten und sie nicht mehr mit ihren Boys abhängen ließen?

Mila hatte die Welt nicht mehr verstanden.

Ohne ein weiteres Wort mit Marvin zu wechseln, war sie aufgestanden, hatte sich umgezogen und seine Wohnung verlassen.

Erst als sie in der U-Bahn gesessen hatte, hatte sie angefangen zu heulen. Und dann hatte die Panikattacke sie übermannt. Schon wieder hatte sie die Scherben einer gescheiterten Beziehung vor sich liegen. Schon wieder hatte ein Typ etwas an ihr auszusetzen gehabt, was ihre Beziehung in die Brüche gehen lassen hatte. War sie denn wirklich überhaupt nicht liebenswert? Hielten es die Typen tatsächlich so wenig mit ihr aus?

Ciao bella!"

Die euphorische Begrüßung des Cocktailverkäufers riss Mila aus dem erdrückenden Strudel ihrer Gedanken.

„Ciao. Ich hätte gerne einen Mojito to go bitte", antwortete Mila träge in perfektem Italienisch und hielt dem gut gelaunt pfeifenden Mann einen Fünf-Euro-Schein hin, den sie immer als Reserve zwischen ihrer Handyhülle und dem Handy klemmen hatte, während sie mit der anderen Hand ihre Sonnenbrille wieder die Nase nach oben schob.

Du bist mir einfach zu unabhängig.

„Bitte sehr, signorina, lass es dir schmecken!", trällerte der Barkeeper und hielt Mila ihren Drink hin.

Er sah verlockend gut aus. – Der Mojito, nicht der Barkeeper.

Mila versetzte ihrem Koffer einen groben Tritt, um sich und ihr Gepäckstück aus dem Weg zu bugsieren. Genauso grob stocherte sie in ihrem Mojito herum, um den Zucker am Boden des Bechers dazu zu bringen, sich aufzulösen.

„Toll", grummelte sie, denn dies funktionierte kein bisschen. Ihr Strohhalm hatte nur einen Radius von ungefähr anderthalb Zentimetern, mehr Spielraum gab das Loch im Deckel nicht her.

Vorsichtig hob Mila also den durchsichtigen Plastikdeckel an, damit sie – weiterhin grob, als ob ihr Mojito etwas für Marvins Entscheidung könnte – den Zucker durch die Eiswürfel wirbeln konnte.

Fasziniert beobachtete sie gerade noch den Wirbelsturm an Zucker, Limetten und Eiswürfeln, den sie mit ihrem Papierstrohhalm verursacht hatte, als –

Cazzo!", rief Mila laut aus.

Jemand stieß gegen ihren Koffer, der hinter ihr stand, sodass dieser in ihre linke Kniekehle rummste, ihr Bein einknickte und sich die wirbelnden Zutaten ihres Cocktails keine Sekunde später auf ihrem weißen Sommerkleid wiederfanden.

Wie zur Marmorsäule erstarrt stand Mila da, beide Arme ein Stück von sich gestreckt und mit offenem Mund hinunterstarrend auf das Desaster.

Am liebsten würde sie losheulen. Das war ihr erster Instinkt.

Ihr zweiter war, den noch halb gefüllten Cocktail-Becher dem Verursacher des Zusammenstoßes ins Gesicht zu werfen.

„Geht's eigentlich noch?!", schnaufte sie auf Italienisch und wirbelte herum.

Sie starrte in ein äußerst attraktives Gesicht.

Ein äußerst genervt dreinschauendes, attraktives Gesicht.

Mojito On The Beach [LESEPROBE]Where stories live. Discover now