Kapitel 1 - Holly

52 10 34
                                    

Holly Brown. Ein unscheinbarer Name, an den sie sich noch gewöhnen musste. Holly Brown. Immer und immer wieder sagte sie sich diesen Namen, der nun ihrer war. 

In ihrem Rucksack, der lose über ihre linke Schulter hing, befand sich alles, was sie für ihren Neustart benötigen würde. Ein Führerschein, ausgestellt auf den Namen Holly Symphony Brown. Ihr Name, denn Holly Symphony Brown war sie. Ebenfalls in ihrem Rucksack war ein Ordner mit Dokumenten, die bewiesen, dass sie als Holly Brown ein ganz normales Leben geführt hatte. Sie hatte nach der High School ein öffentliches College besucht und dort Kunst und Literatur im Hauptfach gehabt und zuletzt in einem Geschäft für Künstlerbedarf gejobbt. Zumindest stand das in ihrem Lebenslauf, mit dem sie sich möglichst bald einen Job suchen musste. 

Holly entfuhr ein Seufzen und mit einer schwungvollen Bewegung beförderte sie den Rucksack höher auf ihre Schulter. Sie spürte, wie sie unter dem Riemen anfing zu schwitzen und ihre Kopfhaut kribbelte von der ungewohnt hohen Sonneneinstrahlung. 

Sie befand sich an einem kleinen Bahnhof in der Stadt, in der sie von heute an leben würde. Mitten im Nirgendwo im Westen von Texas. Suchend sah sie sich um, aber außer karge, staubige Landschaft war nichts zu sehen. 

Schon jetzt sehnte sie sich zurück nach Maine, in den Bundesstaat, in dem sie aufgewachsen und bisher gelebt hatte. Es war nicht so heiß, nicht so staubig und sie brauchte keine Angst zu haben, von einer Klapperschlange oder irgendeinem anderen giftigen Viech angegriffen zu werden. 

Ein erneutes Seufzen entfuhr ihr und eilig verdrängte sie die aufkeimende Sehnsucht. Mister Bell hatte recht, sie musste all das vergessen und ein neues Leben beginnen. Weit weg, mit einer neuen Identität und einem neuen Lebenslauf. 

Holly spürte, wie sie anfing zu zittern, auch wenn es gefühlte 1000 Grad heiß war. Wie Blitze zuckten die Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Bilder von dem Mann, der ihre gesamte Familie ausgelöscht hatte, bis auf sie. Aber das auch nur, weil sie es geschafft hatte, durch die Kanalisation zu fliehen. Sie wusste nicht, warum all das geschehen war und ihre Eltern konnte sie nun nicht mehr fragen. Sie waren tot. 

Kopfschüttelnd verdrängte sie die quälende Frage nach dem Warum, die niemals beantwortet werden würde. Fakt war, dass ihre Eltern in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt gewesen waren, vermutlich irgendetwas mit Drogen und sie die Wut eines Mannes auf sich gezogen hatten, der über Leichen ging. 

Fakt war auch, dass sie durch ein Personenschutzprogramm ans andere Ende des Landes gebracht worden war und nun den dämlichen Namen Holly Symphony Brown trug. Sogar ihr Geburtsdatum hatten sie geändert, wenn auch nur um ein paar Wochen. Sie hatte nun am 17. Juli Geburtstag, sie war also vor knapp einem Monat offiziell 22 Jahre alt geworden. Das war nun ihr neues Ich und wenn sie an ihrem Leben hing, sollte sie besser niemals mehr einen Fuß nach Maine setzen oder ihren richtigen Namen verwenden. Sie war Holly, das schüchterne, kleine blonde Mädchen mit Brille, das neu in der Stadt war.

Holly verließ die kleine Bahnhofshalle, wobei ihr Koffer, in dem sich ihr gesamter Besitz befand, mehr als einmal hängenblieb. Eine der Rollen schien kaputt zu sein, was die ganze Aktion noch anstrengender machte. 

Sie betrat die Straße vor dem Bahnhof und sah sich suchend um. Die Straße vor ihr war wie ausgestorben, nur in einiger Entfernung erkannte sie einen schwarzen Pick-Up, der sich von ihr entfernte. 

Nicht nur, dass sie hier in einen Staat verfrachtet worden war, in dem es hitzemäßig kaum zu ertragen war, es war auch noch ein verdammtes Kaff. Einmal atmete sie tief durch, dann überquerte sie die Straße und steuerte direkt auf die kleine, schäbige Pension zu, die für die nächsten Tage ihr zu Hause sein würde. 

Sie war umgeben von einem wacklig aussehenden Holzzaun und als sie das Tor öffnete, quietschte es unheilvoll. Auch hier schien keine Menschenseele zu sein, nur das durchgehende Zirpen der Zikaden oder was auch immer hier herumfleuchte, war zu hören. Das Gebäude vor ihr war nicht groß, es war zweistöckig und irgendwann einmal weiß angestrichen gewesen, aber nun bröckelte die schmutzige Farbe an mehreren Stellen ab.

Triangle - Die Geschichte eines neuen LebensWhere stories live. Discover now