Kapitel 1 - 12 Wochen, 6 Tage und 22 Stunden.

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[APRIL]

12 Wochen, 6 Tage und 22 Stunden.

So lange war es her, seit ich in dem fremden Bett, inmitten eines unbekannten Zimmers im Temporal City Krankenhaus aufgewacht war. Aus dem Koma. Nach fünf Monaten.

Noch immer war jeder Gedanke daran vollkommen surreal. Während mir die Ärzte unaufhörlich gesagt hatten, was für ein Wunder es war, dass ich es geschafft hatte, und meine Familie jedes Mal, wenn sie mich besuchen gekommen waren, in Tränen ausgebrochen waren, hatte ich nichts gefühlt. Nichts, außer schwerer Müdigkeit, viel Verwirrung und anschwellender Panik bei dem Gedanken daran, dass ich fast ein halbes Jahr meines Lebens verpasst hatte. Einfach so. Weg. Doch die Welt hatte sich weitergedreht. Alle Menschen um mich herum hatten neue Erfahrungen gesammelt, Klausuren geschrieben, Partys gefeiert, sich verliebt, getrennt und wieder versöhnt. Sie waren gereist, im Sommer am Strand gewesen, hatten in lauen Nächten den Sternenhimmel betrachtet und zusammen gelacht. Sie hatten getrunken, viel zu viel getrunken, es am nächsten Morgen bereut und es wieder getan. Sie hatten Musik gehört, neue Hobbys entdeckt und die Zeit genossen. Sie alle hatten gelebt. Während ich um das Überleben gekämpft hatte. Ich wusste, dass meine Familie gelitten hatte, und es zerbrach mir das Herz, mir vorzustellen, was sie in den letzten Momenten hatten durchmachen müssen. Wegen mir. Doch zu wissen, dass alle anderen, die, die nicht um das Leben ihrer Tochter, Schwester oder Freundin gebangt hatten, einfach gelebt hatten, beruhigte mich ein wenig.

Geistesgegenwärtig fuhr ich mit den Fingern über die Kante der hölzernen Kommode in meinem Zimmer. Mein Blick wanderte weiter über das schlichte, penibel gemachte Bett, glitt an dem großen Schrank vorbei und stoppte bei meinem Schreibtisch neben dem bodentiefen Fenster, das auf den Balkon hinausführte. Alles sah aus wie immer. Seit ich an jenem Freitagabend des 15.12. letzten Jahres das letzte Mal aus diesem Raum gegangen war, hatte sich nichts verändert. Nichts. Außer mir.

Ich betrachtete den beigen Plattenspieler, der auf einem kleinen Hocker vor dem Fenster stand, und mein Herzschlag beschleunigte sich minimal. Wie von alleine setzten sich meine Beine in Bewegung. Ich spürte den flauschigen Teppich unter meinen Füßen, als ich das Zimmer durchquerte und vor dem Plattenspieler in die Hocke ging. Auf dem zugeklappten Deckel lagen einige Vinyls, die ich nach dem letzten Hören nicht mehr an ihren eigentlichen Platz zurückgestellt hatte. Ich wusste noch, dass es an dem Abend gewesen war. Ich war bereits zu spät gewesen und hatte mir vorgenommen, sie wegzuräumen, wenn ich wieder zurückkam. Nur war ich nie mehr zurückgekommen.

Beinahe ehrfürchtig griff ich nach den drei Schallplatten und strich über die oberste, deren Cover die vier Mitglieder einer meiner Lieblingsbands mit Champagnergläsern in der Hand auf dem Rücksitz eines Autos zeigte. Abba. Seit ich vor Jahren mit meiner Mutter den Film Mamma Mia! geschaut hatte, liebte ich die Musik der Band und hatte bereits einige Platten gesammelt. Obwohl die Vinyls seit Monaten hier lagen, waren sie nicht verstaubt, was bedeutete, dass jemand regelmäßig sauber gemacht hatte. Trotzdem wirkte mein Zimmer vollkommen unangetastet. Selbst das Buch auf meiner cremefarbenen Bettdecke lag noch dort, wo ich es zuletzt vor Monaten abgelegt hatte.

Diese Erkenntnis weckte verschiedene Gefühle in mir, die ich nicht so recht zuordnen konnte. Insgesamt fiel es mir noch immer schwer, mit meinen Gedanken und Emotionen zurechtzukommen. Von einem Moment auf den anderen überkamen mich manchmal Erinnerungsfetzten aus der Zeit im Koma, bestimmte Geräusche, Gerüche oder Helligkeitsstufen. Ich konnte sie nicht einordnen, doch jede dieser Erinnerungen war eng mit einer Emotion verknüpft. Und diese war meistens Angst oder Verwirrung.

Ich blinzelte und senkte den Blick auf die Schallplatten. Gerade als ich den Deckel des Plattenspielers anheben wollte, erfasste mich ein kurzer, aber heftiger Schwindelanfall. Ich verlor das Gleichgewicht und kippte nach vorne. Hastig griff ich nach dem Hocker und rang nach Luft. Mit einem dumpfen Schlag fielen die Platten von meinem Schoß auf den Boden. Eine Sekunde herrschte Stille. Dann hallte eine helle Stimme durch das Haus: »April? Alles okay?«

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