16 • Xavian

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Fühl dich wie zu Hause - das hatte ich Naomi gesagt, als sie das erste Mal meine Wohnung betrat. Bei Ciana wirkt diese Floskel leer, weil ich genau weiß, dass nichts in diesen Wänden annähernd so ist wie in den Häusern der Sub Town.

Eine Küche, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, all das gibt es beiderorts, aber die Einrichtungen könnten wohl nicht verschiedener sein. Ich stehe zwar nicht auf den Prunk der Gesellschaft und doch wirkt selbst die auf einem Markt aufgetriebene, schlichte Vase auf dem Glastisch vor dem Sofa auf einmal viel zu hochwertig, als dass Ciana sich hier wahrhaftig wie zu Hause fühlen könnte. Also weg von leeren Floskeln.

"Nur um eines vorab klarzustellen - ich bekomme in vertrauten Wänden nicht gerne etwas über den Kopf gezogen."
Ich nehme ihr den Umhang ab und bemerke, wie sich ihre Lippen zu einem vorsichtigen Lächeln formen.
"Nur in vertrauten Wänden?"

"Das ist keine Einladung, es anderswo zu probieren", stelle ich fest und beobachte, wie sie die detaillierten Familienportraits an den Wänden ehrfürchtig betrachtet. Warum ich diese aufgehängt habe, ist mir ein Rätsel. Vielleicht weil es sich als braver Sohn so gehört, vielleicht aber auch, weil ich mir hoffe, dass diese lockere Mimik meines Vaters irgendwann nicht nur für einen Künstler aufgesetzt wird. Je fremder die Zeichnungen auf mich wirken, umso mehr mag ich den Anblick von Ciana in meinen Wänden.

Sie bleibt vor einem Bild stehen, das Lächeln auf ihren Lippen verblasst. Ich lege den Kopf schief. Meine Eltern haben mir bereits früh beigebracht, Menschen zu analysieren. Den Gegenüber zu durchschauen, um die Intentionen zu verstehen, ist in der Gesellschaft überlebenswichtig. Ciana macht es mir nicht leicht. Weil es ihr nicht um Macht geht. Dennoch kann ich mir nicht erklären, warum sie das Bild einer scheinbar glücklichen Familie verstimmt. Ist es, weil ihr bewusst wird, welche Gefahr ihr Einbruch in das Haus meiner Eltern darstellte oder steckt noch mehr dahinter?

"Tut mir leid", murmelt sie und senkt verlegen den Kopf.
"Tut es das wirklich?", hake ich nach.
"Nein." Ertappt grinst sie. "Es war...Notwehr?"

"Ich hatte dich nicht bedroht", werfe ich ein und streife meine Schuhe ab.
"Du kannst dennoch manipulieren." Unentwegt fixiert sie ihre Stiefel und zeigt damit, dass ich nicht so schnell in den Genuss ihrer grünen Iriden kommen werde. Dabei habe ich es selbst vermasselt. Die Situation auf dem Frozen River war unüberlegt. Ein kläglicher Versuch ihr zu zeigen, was sie leisten müsste, der deutliche Risse in ihrer Zutraulichkeit hinterließ. Nun ist es an mir, ihr das Gefühl zu vermitteln, dass sie mir wieder ohne jede Furcht in die Augen schauen kann.

"Wollen wir etwas kochen?"
Mir egal, dass ich heute schon einmal zu Abend gegessen habe. Wenn ich eine zweite Runde in mich stopfen muss, damit sie sich mir öffnet, dann werde ich es machen.
"Kochen?"
Ich nicke, auch wenn sie noch immer auf ihre Stiefel starrt.
"Wenn du möchtest", füge ich also hinzu.

Sie malträtiert regelrecht ihre Unterlippe. "Was soll das, Xavian?"
Gott, mein Name aus ihrem Mund hört sich viel zu gut an.
"Was soll was?"

"Frag mich doch einfach, was du wissen möchtest, damit wir es hinter uns bringen."
Ich mache einen Schritt auf sie zu und bemerke sofort meinen Fehler. Wie ein aufgescheuchtes Tier weicht sie zurück und stößt mit dem Rücken gegen die Wand. Ihre Augen zucken in Richtung Tür und verdeutlichen mir, dass sie am liebsten aus der Wohnung geflohen wäre. Hätte ich nicht gezahlt, hätte ich sie heute Abend schon mehrere Male verloren. Sie braucht Vertrauen in mich, sonst endet das hier in einem Desaster.
"Gib mir das Tuch."

"Nein!"
Sie versteckt die Hand hinter sich, als könnte ich ihr die letzte Schicht Sicherheit nehmen.
"Bitte."

Sie atmet einmal tief ein und wägt ihre Möglichkeiten ab, bevor sie widerwillig das Tuch von ihrem Arm zupft. Sicherlich glaubt sie, ich werde mich gegen ihren Willen stellen. Mit einer fließenden Bewegung wickele ich mir den Stoff um die Augen und knote ihn fest.

You see meWhere stories live. Discover now