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Harry POV:

Kein Laut kam Harry über die Lippen, als der Mann ihm das Zeichen verpasste. Er ritzte es ihm auf den rechten Wangenknochen. Ganz schön clever. Überall sonst hätte Harry es verdecken können, doch im Gesicht war es für Jeden sichtbar. Dass eine solche Regel unter Dealern bestand, hatte er nicht gewusst. Wenn er das getan hätte, wäre er nicht so leichtsinnig gewesen. Der Schmerz war heftig, doch er kniff die Lippen zusammen und regte sich kaum. Nicht, dass Saint mit dem Messer noch ausrutschte. „So, du Wichser." mit diesen Worten stand der Dealer auf, trat noch einmal nach Harry, der sich auf dem Boden zusammenkrümmte und schlug sich dann durch die Büsche hinweg davon.

Einige Momente blieb Harry liegen. Die Blätter des Gebüschs strichen ihm übers Gesicht, Tränen standen ihm in den Augen und er verfluchte sich selbst dafür, was er getan hatte. Der Schnitt auf seiner Wange pochte heftig und blutete, doch er hatte nichts, womit er das Blut abwaschen konnte, also ließ er es laufen. Mühsam richtete er sich auf, hustete ein paar mal trocken und kam dann wackelig auf die Beine. Durch den Entzug war er noch schwächer und alles drehte sich, als er endlich wieder stand. Verängstigt und eingeschüchtert, sah er sich kurz um, dann stolperte Harry davon, um nicht noch länger in dem dunklen Park bleiben zu müssen. Womöglich kam Saint mit ein paar Kumpanen zurück, um ihn endgültig fertig zu machen und darauf war Harry so gar nicht scharf.

Seine Füße schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden und er stolperte, taumelte und wankte aus dem Park hinaus auf die Straße. Es war mitten in der Nacht und Harry hatte keine Ahnung, wo genau er war. Normalerweise kannte er sich gut aus, doch er hatte irgendwie einen anderen Ausgang aus dem Park genommen als sonst und sein Kopf schwirrte immer noch. Der Schnitt in seinem Gesicht fühlte sich riesig an und brannte unangenehm.

Warum hatte er sich heute nicht mehr angestrengt und einfach noch eine Geldbörse mehr gestohlen? Sicherlich hätter er die Gelegenheit dazu bekommen, wenn er sich ein bisschen mehr ins Zeug gelegt hätte. Dann wäre genug Geld da gewesen und die ganze Sache nicht so ausgeartet.

Harry zog sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf, damit man das Blut in seinem Gesicht nicht sehen konnte und stolperte weiter. Die Nacht schien noch kälter geworden zu sein und er musste unwillkürlich daran denken, dass er es bei Louis im Hilfswerk sicherlich viel wärmer gehabt hätte, wenn er nicht abgehauen wäre. Innerlich stritten sich seit seiner Flucht zwei Parteien darum, ob sein Handeln gut oder schlecht gewesen war.

Zayn hatte ihn zwar wieder aufgenommen, doch Harry spürte, dass er immer noch sauer war, weil er ihn im Stich gelassen hatte. Ob Louis auch sauer war? Mit Sicherheit war er das, doch Harry hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Nachdem er mit Louis vor der Tür gewesen war und den Geruch der Stadt wieder einatmen konnte, hatte er ein solches Verlangen bekommen, dass es nicht möglich gewesen war zu widerstehen – er hatte einfach gehen müssen. Auf der anderen Seite erinnerte er sich daran, wie fürsorglich Louis gewesen war. Er hatte ihn ohne Vorbehalt bei sich Zuhause aufgenommen und ihm geholfen, wo er nur konnte. Und was tat er? Ließ ihn einfach stehen. Bestimmt wollte Louis ihn nie wieder sehen.

Bei dem Gedanken zog sich in Harry alles schmerzhaft zusammen, denn eigentlich wollte er Louis schon gerne wiedersehen. Seit Jahren hatte sich kein Mensch für ihn interessiert. Als Straßenkinder waren sie für die Menschen quasi unsichtbar. Jeder, der an ihnen vorbeikam, wenn sie in U- Bahn Eingängen und vor Supermärkten herumsaßen, wich ihren Blicken aus, um nicht damit konfrontiert zu werden, dass es Leute gab, denen es nicht gut ging. Doch Louis hatte ihn gesehen. Louis hatte ihn in der Menschenmasse entdeckt und nicht weggeschaut und das machte Harry unglaublich glücklich. Irgendwann würde er Louis dafür danken.

Die Lichter der Straßenbeleuchtung verschwammen vor seinen Augen und raubten ihm die Sicht. Er wischte die Tränen fort, die beim Gedanken an den Streetworker in ihm aufgestiegen waren und stolperte weiter. Sein Magen schmerzte und seine Hände zitterten immer heftiger. Ab und zu strauchelte er und musste sich an Laternenpfählen oder kleinen Mäuerchen festhalten.

Wo er sich befand, konnte er noch immer nicht sagen, doch es wurde immer kälter und die Luft roch nach Wasser. Harry ging einen schmalen Weg entlang und sah am Ende eine Bank. Die kam ihm gerade recht, denn seine Beine drohten jeden Moment nachzugeben, so wenig Kraft war noch in ihnen.

Das Holz war rau, als er sich darauf setzen wollte und zu spät erkannte Harry, dass es sich nicht um eine Bank handelte, wie er im Dunkeln angenommen hatte. Es war ein Teil eines Gerüstes, das an der Außenseite einer Mauer angebracht war, die direkt an die Themse grenzte. Das Brett war morsch, brach krachend in zwei Hälften und er fiel.

Sein Körper schien zu schreien, als er in das kalte Wasser des Flusses tauchte und für einige Sekunden hatte Harry keine Ahnung, wo oben und unten war. Verzweifelt strampelte er mit den Füßen und kämpfte sich an die Wasseroberfläche. Er schnappte nach Luft, als er hindurchstieß und keuchte.

Verdammt war das kalt. Die Stömung in dem Fluss war extrem und ihm ging schon nach wenigen Zügen die Kraft aus. Wie sollte er hier je wieder lebend herauskommen? Ob er nach Hilfe rufen sollte? Das Wasser brannte ihm in der Nase und er hustete, denn bei seinem Sturz hatte er einiges an Wasser geschluckt. Mitkraftvollen Schwimmzügen steuerte Harry die Mauer an, von der er gefallenwar. Vielleicht gab es eine Leiter,die er erreichen konnte? Viel konnte er nicht erkennen, doch nachdem er sichein wenig an der rauen Mauer entlanggetastet hatte, musste er sich eingestehen,dass es zumindest hier keine Leiter oder Stufen gab. Langsam wurden seine Finger taub und die Haut aufseinem Körper fühlte sich an, als stünde sie in Flammen das Ganze, zusammen mitseinem durch die Entzugserscheinungen nicht richtig funktionierenden Körper,wurde lebensgefährlich

Way OutWhere stories live. Discover now