Das ungewöhnliche Geschenk

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An einem Morgen war Aria nicht da gewesen. Es war der erste Tag seit langem, an dem es wieder geregnet hatte. An jenem Tag trommelte der Regen rhythmisch auf seinen gelben Schirm. Er hatte ihn extra gekauft, da es ihre Lieblingsfarbe war. Sanft rauschten die Blätter im Wind, während der Duft des feuchten Waldbodens ihn umhüllte. Und Augustus? Er wartete, und wartete. Jedes Geräusch ließ ihn hoffnungsvoll aufschauen, in diesen Momenten schlug sein Herz schneller, bloß um im nächsten Moment enttäuscht festzustellen, dass sie nicht dort war. Vielleicht war sie verhindert. Vielleicht hatte sie ihn vergessen. Oder, und jener Gedanke schmerzte am meisten, vielleicht hatte er sie gelangweilt. Eine enttäuschende Leere, begleitet von einem Gefühl der Verlassenheit, breitete sich in ihm aus. Die Stunden verlängerten sich zu einer endlosen Ewigkeit, während er einfach wartete. Und dann, als ihm bewusstwurde, wie lächerlich er sich gemacht hatte, hielt die Welt für einen kurzen Moment den Atem an. Er stand auf.

„Du musst mich frei lassen", ertönte eine Stimme.

Erleichtert und zum gleichen Teil verwundert drehte sich Augustus um. Aria stand am anderen Ende der Lichtung. Ihr nasses Haar klebte an ihrer Stirn, während die Regentropfen über ihre helle Haut liefen. Irritiert sah Augustus zu ihr. Was wollte sie ihm sagen? Ohne einen weiteren Moment verstreichen zu lassen, eilte er zu ihr. Behutsam legte sie ihre kalte Hand an seine Wange.

„Begreifst du es denn nicht? Nach all den Jahren?" Heiße Tränen mischten sich mit den Tropfen auf ihrem Gesicht. „Ich rufe dich schon so lange. Ich flehe dich an, lass mich los! Menschen lügen. Menschen verletzen einander. Ihre Worte, ihre Taten. Es tat verdammt weh. Siehst du denn nicht, wie sehr ich leide? Das, was geschehen ist, ist geschehen. Sie lehnte dich ab und du warst doch noch ein Kind. Sie lehnte dich ab und suchte ihre Liebe bei ihm? Dieses Monster, das sie schlug und betrog! Das dich schlug. Du warst bei ihr und sie hat dich verstoßen. Es ging ihr nicht gut und du wusstest es. Wir wussten es. Du hast versucht, mit ihr zu sprechen, sie von deiner Liebe zu überzeugen. Und sie hat dich angelogen, abgelehnt. Dich in einem Ozean zurückgelassen. Aber du hast uns ertrinken lassen."

Verkrampft presste er die Lippen aufeinander, während seine Kehle schmerzhaft brannte. Die Trauer ließ sich nicht hinunterschlucken, diesmal nicht. Jeder seiner Atemzüge fühlte sich wie ein Kampf an.

„Du hast mich so lange weggesperrt. Hör mich endlich an. Ich kann nicht mehr!"

Zitternd griff Aria in seine Tasche und holte ihr Tagebuch heraus, dann drückte sie es ihm in die Hand.

„Sieh genau hin", sagte sie, den Schmerz in ihrer Stimme konnte sie kaum bändigen. Und er sah ganz genau hin. Langsam sank er zu Boden, während sein Körper unaufhörlich bebte. Die Trauer übermannte ihn und auf einmal waren alle seine Erinnerungen wieder so präsent. Fein säuberlich hatte sein Bewusstsein diesen Teil seines Lebens hinter einem gigantischen Schleier der Täuschung verborgen. Und als er sich beruhigt hatte, begriff er endlich.

„Aria, wie Melodie?", fragte Augustus.

In dem Moment strahlten ihre Augen. „Ja. Die Melodie deines Herzens."

Nach diesem Tag sah Augustus Aria nie mehr wieder. Aber es war in Ordnung, denn sie hatte ihm ein Geschenk gebracht. Seine Stimme.

Immer seltener durchforstete er das alte Notizbuch nach seinen Einträgen und irgendwann entschloss er es an den Ort zurückzubringen, an dem er es gefunden hatte. Ein letztes Mal blickte er auf das kleine Buch, wie es friedvoll auf der Bank lag.

Dann lächelte er und ging.

Die Worte meines Schweigens Where stories live. Discover now