1. Michael

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Die Hände angespannt um das Lenkrad gekrallt fuhr er langsam die steile enge Kurve hinauf, die er schon unzählige Male gefahren war, um zu dem kleinen Einfamilienhaus aus Holz auf dem Gipfel des kleinen Hügels am Ende der Straße zu gelangen. Hohe Tannen säumten seinen Weg. Die Schneemassen der vergangenen Tage, durch den Winterdienst auf die Seite geräumt, verengten den schmalen Weg noch ein bisschen mehr als sonst und verlangten Michael mit einer Sichtweite von knappen fünf Metern sämtliche Konzentration ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihm zu dieser Tages- und Jahreszeit plötzlich ein Fuchs vors Auto lief und er eine Vollbremsung hinlegen müsste.

Erleichtert atmete Michael schließlich auf, als der dunkle Tannenwald endlich lichter wurde und die Autoscheinwerfer, die vertraute Einfahrt seines bestens Freundes erfassten. Müde begann er mit den Schultern zu kreisen, versuchte seine Verspannung, die ihn seit Tagen in Schach hielt, zu lösen, während er auf dem kleinen Hof, der erst vor wenigen Stunden geräumt worden sein konnte, einparkte. Den Schlüssel aus der Zündung ziehend, starrte er schließlich seufzend durch die Stille der plötzlichen Dunkelheit. Er hatte gar nicht realisiert, wie anstrengend die Kombination aus Motorengeräuschen, Lüftung und Radio für ihn gewesen war.

Jetzt hörte er nichts außer dem Wind, der durch die Tannen rauschte, während er im Licht der Straßenlaterne den wilden Tanz dicht fallender Schneeflocken beobachtete. Den ganzen Tag über hatte es schon geschneit. Die Straßenverhältnisse waren eine Katastrophe gewesen, trotzdem hatte Michael sich nicht davon abbringen lassen, selbst her zu fahren. Er hatte die Zeit im Auto genossen. Er hatte es genossen, durch die Winterlandschaft zu fahren, sich auf nichts anderes konzentrieren zu können als auf die Straße vor ihm. Er hatte die Weihnachtsfeiertage schon immer als anstrengend empfunden. Und dieses Jahr mit der ungewöhnlich langen Wettkampfpause vor Weihnachten, hatten sie nicht ein gemütliches zusammensitzen vor Weihnachten mit Freunden und Familie ausgelassen, nicht einen Spieleabend oder Weihnachtsmarktbesuch. Alle hatten sich über die zusätzliche Zeit mit ihm gefreut. Und obwohl er jeden einzelnen liebte und gern Zeit mit allen verbrachte, war es ihm manchmal einfach zu viel. Zu viele Menschen, auf zu engem Raum. Selbst Claudia hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Immerzu hatte sie gefragt, ob bei ihm alles okay war.

Seufzend löste er seinen Sicherheitsgurt und versuchte die sorgenvollen Blicke seiner Freundin zu vergessen.

Alles in Ordnung.

Was hätte er auch anderes antworten sollen? Nachdenklich blickte er in die Nacht, folgte dem weißen Kleid der Tannen, deren Spitzen vom dunklen Grau der Nacht verschluckt wurden.

Alles in Ordnung.

Es war ja auch alles in Ordnung: Sportlich lief es gut. Er war fast immer in den Top Ten, manchmal sogar unter den besten fünf und er hatte es einfach im Gefühl, dass er sich weiter steigern konnte während der Tournee, dass es vielleicht endlich mal wieder für ein Podest reichen würde. Und selbst wenn nicht: Das würde die Zeit mit sich bringen. Alles, was er tun konnte, war weiter an sich zu arbeiten. Er hatte es in der Hand, genauso wie sein Privatleben. Er hatte einfach keinen Grund, trübsinnig zu sein. Es lief bestens. Mehr als das: Seit er mit Claudia zusammengezogen war, hatte er das Gefühl zu wissen, wie der Rest seines Lebens aussehen würde. Sie war einfühlsam, bodenständig und wusste genau, was sie wollte. Seine Familie liebte sie, ebenso wie sein Freundeskreis. Sie waren glücklich, hatten die gleichen Ziele. Besser konnte es also gar nicht sein. Und er wusste das, ebenso wie sein Umfeld, das ihn bereits mehrere Male mit den Andeutungen eines längst fälligen Heiratsantrages in Verlegenheit gebracht hatte. Vor allem Stefan hatte gar nicht mehr lockerlassen können, seit er diesem erzählt hatte, dass er Claudia Tanzstunden zu Weihnachten schenken würde, die sie sich mit ihm gewünscht hatte.

Und eigentlich hatten sie alle samt recht. Fünf Jahre. Seit fünf Jahren teilten sie alles miteinander und er konnte verstehen, warum alle Welt sich fragte, worauf er denn noch wartete. Er wusste es selbst nicht. Seufzend schüttelte er den Kopf und blickte wehmütig in die mit Schwibbögen und Weihnachtssternen hell erleuchteten Fenster von Stefans Haus.

Say something dangerous, like 'I love you'Donde viven las historias. Descúbrelo ahora