Kapitel 3 - Der Rabe

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„Noch ein wenig heiße Schokolade?" Breit lächelnd deutet die Hexe mit dem weißen Kännchen auf die leeren Tassen der Kinder. Ihre sonst so toten Augen strahlen. Die Vorfreude auf den nächsten Blutmond lässt ihr förmlich die Sonne aus dem Arsch scheinen!

Lange vor dem ersten Morgengrauen ist sie aufgestanden und wuselt seitdem in der Küche herum. Rührt Cremes an, karamellisiert Zucker für Bonbons, backt kleine Früchtekuchen, kocht Marmeladen, stopft Hefeteig in den Thermomix und selbst die Eismaschine läuft auf Hochtouren. Es stinkt wie in einem verfluchten Süßwarenladen! Nicht, dass ich je in einem gewesen wäre, aber so stelle ich es mir vor.

„Ja, bitte!" Nadja hebt ihre Tasse an und ein dampfender Strahl dunkelbrauner Flüssigkeit schießt hinein. Unaufgefordert füllt die Hexe auch bei Michael nach. Kurz nach dem Aufstehen haben beide sich nach ihrem Vater erkundigt, aber in den letzten anderthalb Stunden hat ihn niemand mehr erwähnt.

Als wäre ich nicht schon genug gefordert, wird meine Selbstbeherrschung heute auf eine neue Probe gestellt. Eine, mit der ich nie gerechnet hätte! Das Mädchen hat ihren Afro mit zwei bunten Haargummis in Form gebracht. Einen Bausch links, einen rechts. Wie zwei kleine wuschelige Wollknäule sitzen sie auf ihrem Kopf und wippen bei jeder Bewegung. Mein Kopf und die Augen folgen, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte. Jede Faser meines Körpers schreit danach mich mit allen Vieren hineinzukrallen, zu beißen, ziehen, reißen! Sie rufen mich! Wollen spielen!

„Maaauuuuaau", jammere ich leise. Ich muss mich zurückhalten. Es steht so viel auf dem Spiel. Ich dachte, ich hätte meine Seele längst verloren, aber irgendetwas sagt mir, dass ich noch eine letzte Chance habe, sie zurückzugewinnen! Und das werde ich tun! Ich werde diese Kinder retten und das Monster vern...

ICH MUSS DIESE VERFÜHRERISCHEN BOBBEL HABEN!

"Ffffch!" Mit einem gewaltigen Satz bin ich bei Nadja, bremse im letzten Moment ab und rase in meiner verzweifelten Not auf die Katzenklappe zu. Nur weg, einfach fort von der Verführerin! Verwirrte Blicke folgen mir nach draußen. Die kühle klare Schwarzwaldluft bringt mich zur Besinnung. Es ist nur eine Frisur, keine Katzenminze!

Mit einem selbst für mich außergewöhnlich eleganten Sprung lande ich auf dem Holzstapel neben dem Haus und lasse mich nieder.

Meine Faszination für die beiden Kinder geht nicht nur von den Haaren aus. Ich habe noch nie zuvor dunkle Menschen gesehen, außer in Filmen. Sie haben getanzt und gesungen. Sie haben die hellen Schauspieler bedient oder sind von ihnen getreten worden. So vehement und so lange, wie die rosa Menschen die Gleichbehandlung der braunen Menschen verhindert haben, sollte man meinen, dass mit den braunen etwas nicht stimmt. Dass sie böse oder dumm wären.

Gedankenverloren lecke ich mein senkrecht in die Höhe gestrecktes Hinterbein. Wenn ich mir die Kinder aber ansehe ... na ja, zugegeben, sie sind dumm. Aber nicht dümmer als weiße Kinder. Nicht dümmer als Menschen im Allgemeinen, wenn man dem Fernseher glauben schenkt. Und was Bösartigkeit anging, da habe ich als Hexenbegleiterin sowieso andere Maßstäbe.

„Kra! Wer übertreibt denn hier mal wieder mit der Körperpflege?"

Ich erstarre mit herausgestreckter Zunge mitten in der Bewegung, als die krächzende Stimme in meinem Kopf ertönt.

„Man könnte meinen, du hättest nichts Besseres zu tun."

Meine Augen wandern umher und bleiben an dem gefiederten Schatten unter dem Dachgiebel hängen. Klaus sitzt auf dem Balken und beobachtet mich aus seinen unheimlichen schwarzen Knopfaugen.

„Ich habe in der Tat nichts Besseres zu tun!", antworte ich betont gelangweilt.

„Krrruaaaa!", ertönt es aus seinem Schnabel. Er schüttelt sich und plustert sein Gefieder auf.

Ich bin froh, dass er nur die Gedanken hören kann, die ich direkt an ihn richte. Und umgekehrt. Es wäre unendlich anstrengend, ständig mein Innerstes verbergen oder seine schäbigen Überlegungen ausblenden zu müssen.

„So so!" Sein Kopf ruckt herum.

Ich hasse es, wenn er mich so schief anstarrt!

„Nach deinem Auftritt gestern Abend dachte ich, du würdest etwas Dummes anstellen. Sind dir die Kinderchen denn völlig egal, liebste Kitty?"

Dieser dämliche Vogel! Was glaubt er denn, was ich ihm jetzt beichten werde?

„Hat das alte Weib dich auf mich angesetzt oder bist du selbst auf die Idee gekommen mich auszuhorchen? Willst du ihr mal wieder in den Arsch kriechen?" Ich senke mein Bein und blicke ihn herausfordernd an. „Hast du denn schon einen Zweitwohnsitz angemeldet, so gemütlich, wie du es dir da drin gemacht hast?" Ich blecke die Zähne und schenke ihm mein bösartigstes Grinsen.

Innerlich bin ich so angespannt, dass meine Schnurrhaare zittern. Es wird anstrengend genug unter den Augen meiner Herrin etwas zu planen. Wenn sie zusätzlich den fiesen Vogel auf mich hetzt, wird das Unterfangen geradezu unmöglich!

„Um meine Immobilien und steuerlichen Angelegenheiten brauchst du dir keine Sorgen zu machen." Er knickt den Kopf in die andere Richtung. „Und im Gegenteil! Ich möchte dir wärmstens ans Herz legen, deinen kleinen Pelzarsch in Schwierigkeiten zu bringen! Ich wäre langsam bereit für eine neue Schwester oder einen neuen Bruder."

„Was soll das heißen?" Unwillkürlich springe ich auf alle Viere. „Was hat sie dir erzählt?"

„Erzählt?" Langsam reckt er den Kopf, steckt ausgiebig die Flügel und klappert mit dem Schnabel. „Nichts. Ich habe einfach Augen im Kopf! Da sind zwei Kinder. Sie braucht aber nur einen Körper, nur eine Seele, für das Ritual." Mit diesen Worten und einem lauten Krächzen schwingt er sich in die Lüfte und verschwindet hinter der kleinen Scheune neben unserem Häuschen.

Meine Gedanken rasen. Warum ist mir das nicht selbst gekommen? Sie könnte mich ersetzten! Unsere Verbindung funktioniert nicht, wie sie es sich wünscht. Egal wie groß der Widerstand zu Beginn sein mag, meist fügen sich die Haustiere einer Hexe nach einer Weile in ihr Schicksal. Aus Angst, Überlebenswille, vielleicht sogar Gewohnheit. Oder aus eigener Lust an Grausamkeit, wie ich es bei Klaus vermute. Egal aus welchen Gründen, irgendwann werden die Opfer zu Mittätern. Selbst ich.

Doch mein Hass auf sie hat nie nachgelassen. Vielleicht hat das Miststück den Spaß an unserem stetigen Gerangel verloren? Es ist aufwändig einen Familiar zu erschaffen. Und sie braucht zwei, um die Balance zu wahren und vollständig in ihrer Kraft zu sein. Ob ihre Geduld nun trotzdem am Ende ist?

Ich tapse um das Haus und springe auf die schmale Fensterbank vor dem Küchenfenster. Sie sind endlich fertig mit dem Frühstück und räumen das Geschirr zusammen. Die Bäuche der Kinder wölben sich unter den Shirts.

Nun habe ich schon zwei gute Gründe, den beiden zu helfen! Aber wie? Ich muss durch den Schleier dringen, die Betäubung ihres Geistes lösen. Am besten geht das mit einem Schock! Dazu muss ich sie entweder daran erinnern, dass ihr Vater  gerade stirbt oder ihnen klar machen, dass sie sich in den Klauen einer Hexe befinden und bald gefressen werden.

Wenn mein Sprechapparat nur in der Lage wäre, für Menschen verständliche Töne hervorzubringen! Natürlich kann ich seit einigen Jahrzehnten lesen und buchstabieren, aber es ist so umständlich, alles mit diesen unhandlichen Scrabblesteinchen zu erklären. Die Kleinen drehen vermutlich durch, noch bevor ich den ersten Satz formulieren kann.

Ich habe mich in den letzten Jahrhunderten perfekt an diesen Körper gewöhnt. Ihn schätzen und lieben gelernt. Aber jetzt, in dieser Situation, würde ich sogar meinen heiligen Schwanz gegen meinen früheren Mund oder mein altes Paar Daumen eintauschen! Selbst wenn ich vermutlich kaum noch wüsste, wie man sie bedient.

Gähnend strecke ich mich und wetze meine Krallen ausgiebig am spröden Holz der Fensterbank. Eins nach dem anderen. Müde kann man nicht denken! Nach einem ausgiebigen Mittagsschläfchen kommen mir bestimmt noch ein paar brillantere Ideen, als die die ich eh schon habe!

Knusper, Knusper (Eine Märchen-Novelle)Where stories live. Discover now