Ein unbekannter Anrufer

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Am Nachmittag schleppen mich Ran und Rindou zu einem Typen, der in einer Art Keller haust, wie ein untotes Gespenst. Er dealt mit Drogen und scheint ein echtes Wrack von Mensch zu sein und trotzdem hat er eine seltsame Ausstrahlung auf mich, ganz anders als sie eigentlich sein sollte. Ich habe weder Respekt noch Angst vor Junkies und trotzdem jagt mir der Anblick dieses Typen einen Schauer über den Rücken, wie ich das noch nie erlebt habe. Das ist Sanzu. Er hat helle Haare, wie ich und Izana. Aber seine sind ganz bestimmt gebleicht, oben am Ansatz wachsen schon dunklere nach. Sanzu macht Schmuck. Ran und Rindou wollten, dass ich solche Ohrringe kriege, wie sie Izana trägt, bloss viel kleiner und unscheinbarer. Sie sprechen von Bonten, dass sie einen Plan haben und dass ich als ihre Schwester unbedingt dabei sein muss. Ich verstehe von alldem überhaupt nichts. Bloss, dass Sanzu mich unnötig viel anstarrt. "Und du bist sicher, dass du eine Haitani bist?", brummt Sanzu, als er den Abstand zwischen meinen Schultern vermisst. Für was auch immer diese Masse braucht, wenn er mir Ohrringe machen soll. "Ja", sage ich bloss und kriege eine Gänsehaut, als seine Finger "aus Versehen" mein Schlüsselbein entlangstreichen. Ran ballt die Fäuste, als er das mitbekommt, aber Rindou kann ihn sofort wortlos beruhigen. "Dir mache ich keine Ohrringe", brummt Sanzu. Hä, wie, keine Ohrringe? Ran seufzt. "Was dann? Irgendwass musst du ihr ja machen", fragt Rindou nach. Sanzu streicht sich eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht und seine Augen wandern langsam wieder zu mir. Ihm geht's nicht gut. Er ist bleich und hat bestimmt seit Tagen nichts anständiges gegessen, geschweige denn geduscht, oder geschlafen. Wenn man mich fragt, sieht Sanzu wie ein Gespenst aus. Und irgendwie tut er mir Leid. Bestimmt hat er keinen, der sich um ihn kümmert und dreht langsam hier unten durch, wie Kazutora mit der Zeit den Verstand verloren hat. Ich schlucke. Kazutora ist tot. Ich sollte nicht mehr allzu oft über ihn nachdenken. Sanzu's Blick bleibt an meinem Hals hängen. "Ketten. Sie kriegt Ketten. Aber nicht so Mädchen-Teiler. Ihr werdet schon sehen." Sanzu räuspert sich und öffnet den mund, als ob er Mühe beim Atmen hätte, oder noch etwas sagen wollen würde. Dann dreht er sich weg. "Jetzt verschwindet endlich. Muss arbeiten", raunt er heiser. Ihm geht's nicht gut. Ihm geht's überhaupt nicht gut und trotzdem ist er vollkommen allein.

Ran und Rindou haben mich so schnell es gegangen ist aus Sanzus Keller geschleift, fast schon als ob sie mich nicht länger da drinnen lassen wollen würden, als wäre Sanzu gefährlich oder so. In meinen Augen ist Sanzu teif in sich drinnen bloss ein kleiner Junge, der ganz dringend Hilfe benötigt, aber keine kriegt und keiner sieht wie schlecht es ihm wirklich geht. "Schräger Typ", bemerke ich und Rindou streichelt mir über die Haare. "Ja. Sanzu ist verrückt, vollkommen abgedreht." Ran hat bis jetzt geschwiegen, jetzt bringt er doch wieder einen Ton heraus: "Ich hoffe für dich, dass du ihm nie begegnest, wenn er high ist." Ich weiss nicht was Ran damit meint, aber ich nicke, um ihn nicht zu beunruhigen. "Was immer du sagst, Bruderherz", meine ich und Ran lächelt. "He, und ich?", motzt Rindou spielerisch. "Ja, dich hab ich auch lieb", lache ich. "Wie wär's wenn wir Kaffee trinken gehen?", schlägt Ran vor. Ich schaue ihn fragend an. "Ich dachte es gibt keinen Kaffee für Minderjährige?", frotzle ich und Ran verdreht genervt die Augen, während sich Rindou hinter meinem Rücken halb totlacht. "Dann kriegst du eben eine heisse Schokolade", seufzt Ran. "Selber Schuld", neckt Rindou mich und zieht mir an den Haaren. "Au!", mache ich, will nach ihm schlagen aber Rindou duckt sich weg und rennt davon. Sofort flitze ich ihm hinterher. "He, Leute, passt auf, wir sind hier an einer Strasse!", ruft Ran uns hinterher, das dringt aber weder zu Rindou noch zu mir durch.

Zuhause liege ich im Wohnzimmer auf dem Sofa und starre an die Decke hinauf und stelle mir vor sie wäre Mikey. Wenn Blicke hätten töten können, wäre mir jetzt bestimmt die Decke auf den Kopf gekracht. Es ist Mikeys Schuld, dass Kazutora nicht mehr da ist und verdammt nochmal, ich vermisse Kazu so sehr, dass es mir jeden Tag aufs Neue fast das Herz bricht, sein Gesicht auf meinem Schreibtisch sehen zu müssen. Da habe ich nämlich ein Foto vom Gründungstags Tomans aufgestellt. Vielleicht sollte ich das blöde Bild endlich wegnehmen, jetzt wo Kazutora tot und ich nicht mehr Teil der Manji-Gang bin. Vielleicht wäre es jetzt besser, wenn das Bild aus meinem Leben verschwinden würde. Mein Handy klingelt. Ich lausche dem Klingelton, bis er verstummt. Erst als die gleiche Nummer zum dritten Mal in Folge anruft, mache ich mir die Mühe, stehe auf und nehme ab. "Hallo? Wer ist da?", frage ich. Keine Antwort, bloss hektische Atmung am anderen Ende der Leitung. "Hallo?", frage ich nochmals nach. Bloss dieses Besorgnis erregende Keuchen, als sei jemand stundenlang gerannt und jetzt kurz davor zusammenzubrechen. Was soll das? Wer ruft mich um diese Uhrzeit von einer unbekannten Nummer aus an und kriegt nicht mal den Mund auf, um mit mir zu sprechen? "Hey, alles in Ordnung?", frage ich leicht besorgt. Vielleicht ist etwas schlimmes passiert und ich weiss noch nichts davon, oder die ganze Sache ist einfach bloss ein blöder Streich.

Fünf Minuten lang kriegt mein Gegenüber keinen einzigen Ton heraus, er atmet bloss. "Kann es sein, dass ich dich kenne?", frage ich nach einer Weile. Eigentlich kenne ich die Antwort doch schon, bevor ich sie stelle, denn ich weiss, dass ich gar keine bekommen werde. Langsam  bereitet mir dieses Telefonat ernsthafte Sorgen. Wäre das alles ein dummer Streich, dann hätte doch der Anrufer bereits aufgelegt und wenn etwas wichtiges geschehen wäre, dann hätte er bestimmt schon etwas gesagt. "Wer bist du?", frage ich. Wie zu erwarten gewesen ist erhalte ich keine Antwort. Ich finde die ganze Sache überhaupt nicht lustig, sondern es jagt mir bloss Angst ein. "I...Ich lege jetzt auf, wenn du nicht mit mir sprichst", drohe ich. Das Keuchen verstummt nicht, sondern fährt weiter fort. Ich seufze. "Danke für dieses äussert aufschlussreiche Gespräch", stöhne ich genervt und lege auf.

Als später am Abend Ran und Rindou nach Hause kommen, erzähle ich den beiden erst mal nichts von dem seltsamen Anruf, den ich heute Nachmittag erhalten habe. Sie würden sich sowieso nur aufregen, das ganze Netz nach der Nummer durchsuchen und erst aufgeben, wenn sie den Witzbold endlich aufgespürt und für seine idiotischen Taten foltern haben lassen. Ich seufze, als ich Ran dabei helfe, die saubere Wäsche aus der Waschmaschine zu räumen. Normalerweise mache ich die Hausarbeit nicht, eigentlich macht sie ja hier gar keiner, weder ich, noch Ran, noch Rindou und die Dreckwäsche liegt tagelang im Wäschekorb, bevor sich jemand erbarmt und sie wegräumt. "Du, Ran, findest du, dass es wirklich in Ordnung ist, wenn ich in Tenjiku bleibe?", frage ich meinen ältesten Bruder. Ran dreht sich zu mir und hängt ein Sweatshirt über den Trockner, dann meint er: "Kiki. Solange du glücklich bist ist mir völlig egal was du machst und wo du dich aufhältst. Und ehrlich, lieber habe ich dich hier bei mir in Tenjiku, wie wenn du bei diesem Mikey und Takemichi herumgammelst. Die sind doch alle bescheuert." Böse starre ich Ran an. "Nenn sie nicht so. Und wehe du sagst irgendetwas gegen Chifuyu oder Baji", fauche ich Ran an. "Ach, Kiki, das habe ich doch bloss so gesagt. Ich meine, die sind ganz schön blöd, dass sie dich rauswerfen, hm?" Ich seufze und beruhige mich indem ich ein, zwei Mal tief durchatme. "Tut mir Leid, ich bin immer noch recht empfindlich", murmle ich und drehe das Gesicht weg. Ran legt die Wäsche weg und öffnet seine Arme. Ich lasse mich hineinfallen. "Hey. Sei einfach nicht traurig, meine Kleine", flüstert Ran und tätschelt aufmunternd meinen Hinterkopf.

Haitani's Little SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt