Kapitel 1.2

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Neben dem Präsentationspult steht bereits jemand mit dem Rücken zu mir, der gelassen seine Präsentation durchklickt und so in sein Thema vertieft ist, dass er meine Anwesenheit nicht einmal bemerkt. Er sieht sehr professionell aus mit seinem Hemd und den Lederschuhen, ganz und gar wie jeder hochrangige Mann in diesem Gebäude. Alzheimer. Das Wort sticht mir von all den Begriffen auf der Folie sofort ins Auge.

Organisiert meine Chefin jemanden, der eine allgemeine Präsentation zu dem Thema gibt, bevor ich an der Reihe bin, mein Projekt vorzustellen?

Ich blinzele verwirrt. Die Basisfakten habe ich auch auf meinen ersten Folien, das weiß sie. Ich schüttele kurz den Kopf, um mich wieder zu fangen, und schlucke einmal.

"Guten Morgen!", rufe ich freundlich, während ich so selbstbewusst wie nur möglich nach vorne gehe.

Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich diesen Tag gedanklich bis ins kleinste Detail durchgeplant habe, und es mich völlig aus der Bahn wirft, mit so etwas Ungeplantem wie einem zusätzlichen Redner überrascht zu werden. Meine Folien zu den Grundlagen der Krankheit sind hinfällig, wenn jemand anderes bereits vor mir darüber spricht. Ich werde sie löschen müssen, bevor der Vorstand eintrifft. Kein Problem. Es hätte auch schlimmer kommen können.

Der Mann wirbelt beim Klang meiner Stimme herum und unsere Blicke treffen sich.

Oh Gott.

Nein.

"Guten... Guten Morgen", stottert er, ohne seinen Blick von mir abzuwenden.

Er weiß es. Ich kann spüren, dass er es weiß.

Innerlich schlage ich die Hände vor mein Gesicht und möchte am liebsten sofort im Erdboden versinken.

"Tut mir leid." Er räuspert sich und seine Stimme wird selbstbewusster. "Ich bin für das 9 Uhr Meeting hier und wollte meine Präsentation nochmal durchgehen. Ist das der falsche Raum, oder sind Sie die Assistentin von Herrn Zhang?"

Ich starre ihn an. Assistentin?!

"Oh, wie unhöflich, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt." Er geht einen Schritt auf mich zu und streckt mir seine rechte Hand entgegen. "Dr. Colin Edwards, Anwärter für die Stelle als Projektleiter."

Mein Mund klappt auf. Ich kann nicht anders. Das Rauschen in meinen Ohren dröhnt im Hintergrund, während sich meine Gedanken überschlagen. Warum hat meine Chefin mir nichts von ihm erzählt? Warum ist er hier? Wie kann er nicht das Offensichtlichste aussprechen? Und warum ausgerechnet er? Außerdem: Wie unsympathisch, sich mit dem Titel vorzustellen.

Ich spüre, wie sich meine linke Augenbraue darauf vorbereitet, nach oben zu zucken, und hätte beinahe schmollend die Arme vor der Brust verschränkt. Aber heute ist mein Tag.

Ich straffe die Schultern und setze mein natürlichstes Lächeln auf. "Dr. Josephine Abrams." Dass ich nicht die Assistentin eines Vorstandsmitglieds, sondern promovierte Wissenschaftlerin bin, wird er wohl am Titel bemerken. Wenn er unbedingt seinen Dr. erwähnen muss, kann ich das auch.

Ich überwinde mich und sehe ihm während des Händedrucks in die Augen, so wie es die Etikette verlangt. Aber als sich unsere Blicke treffen, wird es mir klar: Er hat keine Ahnung. Seine Miene ist neutral und distanziert, seine Hand warm und trocken. Um die Augen hat er schon kleine Fältchen, aber trotzdem ist es noch der gleiche Blick, den ich schon vor Jahren so faszinierend fand.

Wie kann er mir in die Augen sehen, als wären wir Fremde? Er hätte sich beim besten Willen nicht vorstellen müssen. Erkennt er mich wirklich nicht? Hat er meinen Namen nicht gehört? Allmählich beginne ich an mir selbst zu zweifeln. Vielleicht ist er gar nicht der, für den ich ihn halte, und der Name war völlig zufällig. Schließlich kann er sich doch unmöglich so verhalten, wenn er wüsste, dass wir uns kennen. Aber die Ähnlichkeit ist zu verblüffend. Er muss es einfach sein.

"Sie bewerben sich für das Alzheimer-Projekt, nehme ich an?", frage ich und zeige auf die Folie seiner Präsentation, die noch geöffnet ist.

Er sieht kurz auf die Leinwand und nickt dann. "Ja, das Projekt klingt spannend. Ich könnte perfekt meine bisherigen Erfahrungen in der Medikamentenentwicklung anwenden. Bis vor kurzem war ich an der Boston University und habe an der Erforschung der molekularen Mechanismen von Alzheimer geforscht. Also was genau bei der Krankheit im Gehirn passiert und wie es sich von einem gesunden unterscheidet."

Hat er mir gerade ernsthaft erklärt, was molekulare Mechanismen sind? Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange und verkneife mir einen Kommentar. Aber Dr. Edwards scheint meinen Unmut gar nicht zu bemerken und fährt nonchalant mit seiner Selbstdarstellung fort.

"Als ich hörte, dass hier eine Stelle als Projektleiter zu besetzen ist, musste ich mich einfach bewerben. Die Firma ist international bekannt und nicht weit entfernt von meiner Heimat. Ein Kollege aus Boston ist glücklicherweise mit dem Vorstandsvorsitzenden befreundet und konnte mir den Termin heute verschaffen." Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. "Entschuldigen Sie mich bitte, ich wollte meine Folien nochmal durchgehen und der Vorstand wird jede Minute eintreffen." Er nickt freundlich und geht dann zurück an den Computer.

Völlig perplex bleibe ich stehen, unfähig etwas zu sagen. Mein Mund öffnet sich einige Male, aber ich bringe kein Wort heraus. Ich will meine Folien noch einmal durchgehen! Dieses Meeting wurde wegen mir einberufen. Was bildet er sich eigentlich ein? Am liebsten würde ich nach vorne stampfen, seinen USB-Stick aus dem Slot reißen und aus dem verdammten Fenster werfen. Meine Hände ballen sich zu Fäusten.

Der Name und die optische Ähnlichkeit sind kein Zufall. Ich bin nicht naiv genug, um zu glauben, dass Dr. Edwards nicht der Colin aus meiner Kindheit ist, mit dem ich mich immer so gut verstanden habe. Umso schwerer fällt es mir, die erwachsene Version von ihm zu hassen, aber im Moment setzt er wirklich alles daran, sich als Arschloch zu verkaufen. Er kann doch nicht einfach hier auftauchen, an meinem Arbeitsplatz, sich benehmen wie der überheblichste Idiot und sich für eine Stelle bewerben, auf die ich jahrelang hingearbeitet habe!

"Dr. Abrams!", ruft eine übertrieben freundliche Stimme hinter mir. "Großer Tag heute."


Unbothered.Where stories live. Discover now