Kapitel 6 - NICK

28 7 0
                                    


NICK


Nicht zu fassen! Erstaunt bleibe ich stehen und verharre einen Augenblick. Ist Jessy gerade wirklich in William Lobsters Büro verschwunden? Unser Jessy? Der Junior Associate aus England? Wieso geht er ins Büro des Namenspartners? Meine Gedanken überschlagen sich förmlich und ich mache auf halbem Weg kehrt. Im Moment ist mir egal, dass Daniel in seinem Büro auf mich wartet, denn jetzt muss ich mit Trisha sprechen! Wenn jemand weiß, wieso der schüchterne Anwalt in Mr. Lobsters Büro gerufen wird, dann sie. Noch mehr als Jessys heimliche Beförderung überrascht mich dann allerdings Trisha. Zum ersten Mal, seit ich hier arbeite, treffe ich sie nicht an ihrem Schreibtisch an. Mehr noch, sie ist wie vom Erdboden verschluckt und ich kratze mich irritiert am Hinterkopf. Was zum Kuckuck ist hier los?

Nicht einmal Daniels Auftrag hebt meine Laune. Zwar darf ich in seinem Namen eine Mandantin aufsuchen und einen kleinen Pro-bono-Fall bearbeiten, im Moment will ich aber viel lieber wissen, wie Jessy William Lobsters Aufmerksamkeit erregen konnte. An seiner Arbeitsweise kann es zumindest nicht liegen, denn auch wenn er gut ist, arbeitet er langsamer als ich. Vielleicht hat ja Jade eine Idee und ich beschließe sie im Großraumbüro darauf anzusprechen.


Dort angekommen ereignet sich jedoch bereits das nächste Theater und ich mache große Augen. Anfangs verstehe ich nur Bahnhof, doch als ich näher an die zwei lautstark diskutierenden Frauen herantrete, kann ich mir einen Reim auf die ganze Sache machen. Weil ich weiß, dass die Beziehung zwischen Jade und ihrer Mutter ohnehin angespannt ist, erkenne ich sofort, dass es sich bei der zweiten etwas älteren Dame um ihre Mutter handeln muss. Meine Gedanken werden bestätigt, als Jenna verkündet, den Arbeitsplatz ihrer Tochter begutachten zu wollen. Als ihre Ausdrucksweise unhöflich und gehässig wird, kann ich meinen Ohren jedoch kaum trauen. Jetzt verstehe ich, wieso Jade beim Telefonieren mit ihrer Mutter immer sehr schroff und kurz angebunden gewirkt hat. Ihre Mutter scheint ein echtes Biest zu sein. Mehr noch, sie ist gemein, verletzend und schimpft übel mit ihrer Tochter. Heimlich zähle ich die Sekunden, bis Jade zurückmotzt, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie dies auf sich sitzen lässt. Als ich aber feststelle, dass Jade stumm bleibt, verschlägt es mir die Sprache. Mein Gehirn beginnt zu rattern und ich sehe in ihr blasses Gesicht. Ihre Augen sind geweitet und sogar ein bisschen glasig und dennoch verteidigt sie sich nicht. Noch nie zuvor habe ich Jade so erlebt. Sie wirkt klein, ängstlich und zerbrochen. Ihre Mutter scheint sie tatsächlich einzuschüchtern. Sie gibt sich geschlagen und ich verstehe die Welt nicht mehr. So kenne ich Jade nicht! Das ist sie nicht! Mein Magen dreht sich und ich kann mir Jennas dummes Geschwafel nicht länger anhören und schreite ein. Ich mische mich in die laufende Mutter-Tochter-Konversation ein und bitte Jenna zu gehen. Sie hat kein Recht hier bei Lobster International aufzukreuzen und solch unverschämte Dinge von sich zu geben! Immerhin bin ich hier der Einzige, der sich solche Rededuelle mit Jade liefern darf!

Jenna Moss sieht dies hingegen anders, denn durch meine Aufforderung das Büro zu verlassen, wird sie nur noch zorniger. Sie fuchtelt wild mit den Händen umher und wirf mit eine Drohung nach der anderen an den Kopf. Als sich dann aber auch andere Associates erheben und sie bitten zu verschwinden, kommt sie unseren Aufforderungen nach und zieht widerwillig ab. Krass. Kaum zu glauben, dass Jade mit dieser Furie verwandt ist. Auf den ersten Blick kann ich nämlich keinerlei Ähnlichkeit feststellen. Bevor ich aber mit ihr reden und erfragen kann, was das gerade war, verschwindet auch sie aus dem Büro und lässt sich den restlichen Tag über nicht mehr blicken. Weder im Großraumbüro noch in der Bibliothek treffe ich sie an. Während ich überlege, wo sie noch sein könnte, wandern meine Gedanken zu unserer Stammbar. Schließlich könnte jeder an ihrer Stelle nach so einem Tag einen Drink vertragen und ich beschließe sie dort zu suchen.

Vom Feind verführtWhere stories live. Discover now