IV. Der Talentwettbewerb

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Das alles war jetzt schon ganze fünf Jahre her. Inzwischen war ich siebzehn. Heute war der Día de los Muertos, weshalb Abuelo und ich alle Bilder unserer Familie auf der Ofrenda platziert hatten, mit einigen ihrer Lieblingsspeisen. Auch ein Bild von mir stand auf der Ofrenda, da es bei meiner ersten Reise ein paar Schwierigkeiten auf dem Rückweg gab, aber solange mein Foto auf der Ofrenda steht, läuft alles glatt. Als ich mein Foto das erste Mal aufgestellt hatte, musste ich auch Abuelo von allem erzählen, sonst hätte er sich nur Sorgen um mich gemacht. Das macht er zwar jetzt immer noch, aber zumindest denkt er nicht, dass ich einen an der Klatsche habe. Oder vielleicht auch doch, aber was soll's? 

Zur Sicherheit streute ich auch noch ein paar Ringelblumenblätter in meinem Zimmer aus, die wir noch übrig hatten, und stellte ein paar Kerzen auf. Theoretisch sollte es nämlich auch möglich sein, dass ich bei Sonnenaufgang einfach an der Stelle wieder auftauche, an der ich war, als die Sonne unterging, aber das habe ich bis jetzt nicht ausprobiert. 

Da der Tag noch jung war, spazierte ich etwas durch die Stadt. Am Plaza wurde schon für das Musikfest aufgebaut, was heute Nacht stattfinden würde, aber da ich es mir ohnehin nicht anhören konnte, ging ich weiter Richtung Familie Rivera. Miguel und ich hatten es tatsächlich geschafft, dass seine Familie keinen Schimmer von mir hatte. 

Ich sah mich noch einmal schnell um, bevor ich aufs Dach kletterte und hinter dem Schild verschwand. Die Sekunde, in der ich drin war, hörte ich ihn schon auf seiner Gitarre spielen. Auch wenn die Gitarre ein absoluter Albtraum für Gitarrenbauer war und ich auch gerade daran saß, ihm eine 'echte' De la Cruz Gitarre zum Geburtstag zu bauen, musste ich zugeben, dass sie trotzdem gut klang. 

Ich wollte nicht, dass er aufhörte zu spielen, weshalb ich mich einfach schräg hinter ihm in den Türrahmen setzte und zuhörte. Er hatte die Augen geschlossen und traf trotzdem jeden Ton perfekt. Ich konnte ihm den ganzen Tag zuhören, ohne es irgendwann sattzuhaben und wenn er dann auch noch anfing, dazu zu singen ... mein Tag könnte nie besser werden. 

Na ja, vielleicht, wenn ich irgendwann den Mut zusammennehme und ihm sage, was ich für ihn empfinde und er dann meine Gefühle erwiderte. Das würde seinen Gesang noch toppen. Aber bis dahin werde ich weiter im Kerzenlicht sitzen und ihm dabei zuhören, wie er heimlich Gitarre spielte. 

Er war so unglaublich talentiert, dass es mir jedes Mal leidtat, wenn ich darüber nachdachte, dass er nur in einer kleinen Ecke auf dem Dachboden spielen kann, ohne dass er dafür Ärger bekam. Das ist die reinste Verschwendung seines Talentes. Ich meine, er muss nur einmal kurz sehen, wie jemand eine Melodie vorspielt und schon kann er es. 

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass die Melodie gestoppt hatte, bis ich ein scharfes Luftholen hörte. "Gott, hast du mich erschreckt."

Ich lächelte nur, während ich meinen Kopf auf meine Hände sinken ließ. "Spiel ruhig weiter. Fühl dich von mir nicht gestört." Er war kurz sprachlos und ich könnte schwören, dass er leicht rot wurde, aber im Kerzenschein trügt einen das Auge auch mal gern. "Wie lange sitzt du schon da?" "Nur ein paar Minuten, keine Sorge."

Erleichtert atmete er aus, woraufhin ich eine Augenbraue nach oben zog. "Was hab' ich denn verpasst?" "Nichts, nichts", antwortete er ein wenig zu schnell, aber ich bohrte auch nicht weiter nach, sondern wechselte das Thema, während ich mich wieder aufsetzte. "Gehst du heute zum Talentwettbewerb?" 

Seufzend zog er einen Flyer aus seiner Tasche. "Den hier?" "Das ist doch die beste Möglichkeit zu zeigen, was du kannst." Miguel lachte sarkastisch. "Klar und meine Familie schmeißt mich gleich noch raus." Er ließ sich zurückfallen, sodass er direkt neben mir lag, aber er hielt die Gitarre immer noch fest in der Hand. Ich konnte das Ding gar nicht lange ansehen. Noch eine Woche, dann wird er achtzehn und bekommt eine ordentliche Gitarre. 

"Und wennschon, dann wohnst du einfach bei mir. Dann kannst du so viel spielen, wie du willst." "Du willst mich doch nur den ganzen Tag spielen hören, ohne jedes Mal hierherzukommen." Ich zuckte nur mit den Schultern, während er grinsend zu mir aufsah. "Vielleicht." Ein schnaubendes Lachen entfuhr ihm, bevor er mich wieder mit einem Glitzern in den Augen ansah. Ich hatte kurz das Verlangen, ihm durch die Haare zu fahren, die ihm wild vom Kopf standen, aber hielt mich noch davon ab. 

"Denkst du wirklich, dass ich da hingehen sollte?" "Machst du Witze? Natürlich denke ich das. Wie hat De la Cruz gesagt? 'Nutze deinen Augenblick' oder irgend so was. Deine Eltern müssen doch davon gar nichts mitbekommen. Du gehst dahin, spielst vor, holst dir deinen Preis, weil du garantiert gewinnen wirst", er lachte kurz auf, "und gehst dann einfach wieder nach Hause, ohne dass jemand etwas mitbekommt. Das klingt doch nach einem Plan, oder?" 

Miguel setzte sich auf und sah auf den Flyer, bevor er sich noch einmal zu mir drehte. "Wirst du da sein?" Seufzend sah ich auf meine Füße. "Du weißt, dass ich am Día de los Muertos immer zu Hause bleibe. Also nein, ich werde nicht da sein." Miguel hatte ich nichts vom Totenreich erzählt und ich möchte diese Konversation auch so lange es geht hinauszögern. Bestenfalls will ich sie gar nicht fühlen. Er hält mich nur für verrückt. Es war schon schwer genug, es Abuelo zu erzählen.

Eine leichte Melodie schwebte durch die Luft, als er wieder die Saiten zupfte, was mich zu ihm aufsehen ließ. Er trug ein breites Lächeln, als er stolz verkündete, dass er dann einfach so laut spielen müsste, dass ich es bei mir zu Hause hörte. Der Junge konnte wirklich manchmal kindisch sein, aber es zauberte mir trotzdem ein Lächeln auf die Lippen. "So machen wir es", meinte ich lachend, bevor ich auf die Uhr sah. 

Noch eine halbe Stunde, dann ging der Día de los Muertos los. "Ich muss jetzt los, aber du wirst das rocken, das habe ich im Gefühl." Vielleicht konnte ich ihm ja auch ganz kurz in meiner Totenform zusehen. "Danke, Sierra." 

Ich sah noch einmal kurz über meine Schulter und lächelte, bevor ich mich auf meinen Weg nach Hause machte. "Viel Glück, Miguel", murmelte ich noch, als ich am Plaza vorbeilief.

Für mich ging es jetzt zu einer Familienrunde jenseits der Ringelblumenbrücke.

Halbtot (Älterer Miguel Rivera - Coco)Where stories live. Discover now